Wehe – damals! Wehe heute?

Jesaja 5, 8 – 24

8 Weh denen, die ein Haus zum andern bringen und einen Acker an den andern rücken, bis kein Raum mehr da ist und sie allein das Land besitzen! 9 Es ist in meinen Ohren das Wort des HERRN Zebaoth: Fürwahr, die vielen Häuser sollen veröden und die großen und feinen leer stehen. 10 Denn zehn Morgen Weinberg sollen nur „einen“ Eimer geben und zehn Scheffel Saat nur „einen“ Scheffel.

            Ein Wehe-Ruf reiht sich nun an den nächsten. Beginnend bei denen, die sich Haus um Haus, Acker um Acker, Weinberg um Weinberg unter den Nagel reißen. Sie vertreiben andere von ihrem Besitz und lassen ihnen keinen Raum mehr zum Leben. Am Ende gehört ihnen alles, ihnen allein. Aber: Es wird keinen Ertrag bringen. Geradezu lächerliche Erträge sind das Ergebnis. Es ist kein Segen auf diesem zusammengerafften Besitz.

            Sie gleichen in ihrer Raffgier dem reichen Kornbauern, von dem Jesus erzählen wird: „Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast?“ (Lukas 12,20) Ganz abgesehen von dieser Torheit – es ist ein Verstoß gegen das Gebot Gottes, so das Land an sich zu bringen. Das Land ist Gottes Land und nur geliehen, auf Zeit. Es steht unter dem Eigentumsvorbehalt Gottes: „Darum sollt ihr das Land nicht verkaufen für immer; denn das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge und Beisassen bei mir.“ (3. Mose 25,23) Hier setzt die Kritik zutiefst an.

11 Weh denen, die des Morgens früh auf sind, dem Saufen nachzugehen, und sitzen bis in die Nacht, dass sie der Wein erhitzt, 12 und haben Harfen, Zithern, Pauken, Pfeifen und Wein in ihrem Wohlleben, aber sehen nicht auf das Werk des HERRN und schauen nicht auf das Tun seiner Hände! 13 Darum wird mein Volk weggeführt werden unversehens, und seine Vornehmen müssen Hunger leiden und die lärmende Menge Durst.

            Genauso scharf und hart ist der zweite Weh-Ruf. Über die, die sich das Leben schön machen und schön reden, es genießen ohne Maß und Ziel. Über die Müßiggänger.

            Es liest sich wie ein Kommentar zu den scharfen Worten Jesajas: „Wo ist Weh? Wo ist Leid? Wo ist Zank? Wo ist Klagen? Wo sind Wunden ohne jeden Grund? Wo sind trübe Augen? Wo man lange beim Wein sitzt und kommt, auszusaufen, was eingeschenkt ist. Sieh den Wein nicht an, wie er so rot ist und im Glase so schön steht: Er geht glatt ein, aber danach beißt er wie eine Schlange und sticht wie eine Otter. Da werden deine Augen seltsame Dinge sehen, und dein Herz wird Verkehrtes reden, und du wirst sein wie einer, der auf hoher See sich schlafen legt, und wie einer, der oben im Mastkorb liegt. »Sie schlugen mich, aber es tat mir nicht weh; sie prügelten mich, aber ich fühlte es nicht. Wann werde ich aufwachen? Dann will ich’s wieder so treiben.«(Sprüche 23, 29 – 35)Das ist nicht sauertöpfische Genussfeindlichkeit. Aber das Wissen, dass so ein Leben die Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit vergessen lässt, Solidarität mit Füßen tritt und sich der Verantwortung verweigert. Das Ende ist ein ruiniertes Land.

14 Daher hat das Totenreich den Schlund weit aufgesperrt und den Rachen aufgetan ohne Maß, dass hinunterfährt, was da prangt und lärmt, alle Übermütigen und Fröhlichen. 15 So wird gebeugt der Mensch und gedemütigt der Mann, und die Augen der Hoffärtigen werden erniedrigt, 16 aber der HERR Zebaoth wird hoch sein im Gericht und Gott, der Heilige, sich heilig erweisen in Gerechtigkeit. 17 Da werden dann Lämmer weiden wie auf ihrer Trift und Ziegen sich nähren in den Trümmerstätten der Hinweggerafften.

            Das lässt Gott, der HERR Zebaoth, nicht durchgehen. Die Folge dieser Entsolidarisierung ist auf der einen Seite die Verbannung, Wegführung, so wie es ja in Samaria schon geschehen ist. Auf der anderen Seite ein starkes Bild: Das Totenreich hat den Schlund weit aufgesperrt. Das ist nicht mehr stilles Sterben hier und da. Der Tod hält reichlich Ernte. Ohne Unterschied.

            Es ist eine bittere Wahrheit: Wo der Mensch hochfährt, wird Gott ganz klein. Wie kann man dem entgehen? Durch das Lernen einer Demut, die nie übersieht, dass wir Menschen sind und nicht Götter. Die sich einübt in ein Leben, das sich bescheiden kann und nicht maßlos wird. Wo aber diese Maßlosigkeit gelebt wird, hat sie schlimme Folgen: Wo heute noch prächtige Villen stehen, wo maßlos gefeiert wird, werden morgen schon Schafe weiden. Sic transit gloria mundi. So vergeht der Glanz der Welt, die Gott vergisst. 

 18 Weh denen, die das Unrecht herbeiziehen mit Stricken der Lüge und die Sünde mit Wagenseilen 19 und sprechen: Er lasse eilends und bald kommen sein Werk, dass wir’s sehen; es nahe und treffe ein der Ratschluss des Heiligen Israels, dass wir ihn kennen lernen!

            Es gibt eine Haltung, die das Recht beugt, die für die eigenen Zwecke jedes Mittel heiligt, weil sie überzeugt ist: Gott ist taub und blind. Er greift ja doch nicht ein. Auch da nicht, wo es handgreiflich ist, wie Stricke der Lüge und die Sünde mit Wagenseilen offenkundig sind. Es gibt eine schamlose Unverschämtheit des Unrechts, die sagt: Ist doch alles legal und sich nicht darum kümmert, dass dieser Legalität jede Legitimität fehlt. Aber Gott ist nicht blind und taub. Und „Er lässt sich nicht spotten.  Was der Mensch sät, das wird er ernten.“ (Galater 6,7) Darum: Wehe!

20 Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süß und aus süß sauer machen! 21 Weh denen, die weise sind in ihren eigenen Augen und halten sich selbst für klug!

            Es ist eine verdrehte Welt, der die Maßstäbe abhandengekommen sind. Die Wahrheit wird verkehrt. Die Lüge feiert Triumphe. „Alles ist möglich!“ tönt es. Und: Es gibt keine Grenzen. Es ist eine überhebliche Lebenshaltung, die nur sich selbst kennt und nur sich selbst als Maß hat. Gott hat hier keinen Raum mehr. So „modern“ ist das Lebensgefühl vor gut 2700 Jahren! Der Wehe-Ruf sagt: diese hochmütige, selbstgewisse Lebenshaltung hat keine Zukunft. Sie verspielt sie gerade.

            Wie anders dagegen die Ethik, die in einer kleinen Gemeinde gelten soll: „Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug.“ (Römer 12,16) Es ist eine Frage, die jede Generation neu beantworten muss: Wie sieht die Lebenseinstellung aus, die wir für zukunftsfähig halten, meinetwegen auch für nachhaltig?

 22 Weh denen, die Helden sind, Wein zu saufen, und wackere Männer, Rauschtrank zu mischen, 23 die den Schuldigen gerecht sprechen für Geschenke und das Recht nehmen denen, die im Recht sind! 24 Darum, wie des Feuers Flamme Stroh verzehrt und Stoppeln vergehen in der Flamme, so wird ihre Wurzel verfaulen und ihre Blüte auffliegen wie Staub. Denn sie verachten die Weisung des HERRN Zebaoth und lästern die Rede des Heiligen Israels. 

            Eine letzte Gruppe kommt in Blick: Leute, die mit der Wahrung des Rechts beauftragt sind. Was für eine Beamten-Clique!Sie sind tüchtig, wenn es ans Saufen geht, aber untauglich für ihren Beruf: Bestechlich, korrupt, auf Geschenke aus. Sie sprechen Gefälligkeitsurteile zugunsten der Meistbietenden und verderben so das Recht. Gottes heiliges Recht. 

            Das aber wird ihnen zum Verderben werden. Darum – ihr Tun bleibt nicht folgenlos. Sie selbst werden seine Folgen zu tragen haben.  Sie werden wurzellose Leute, ausgerissen aus der Erde und vom Wind verweht.

            Sind die Wehe-Rufe des Jesaja ein frühe Vorlage für die Wehe-Rufe Jesu, wie sie bei Matthäus (Matthäus 23, 13 -33) überliefert werden? Von der Sprache her sicher. Vom Inhalt her ist es ein wenig anders: Jesus greift nicht die politische Führungsschicht an, sondern die, die sich als die Autoritäten in Sachen Glauben gebärden, Schriftgelehrte und Pharisäer, die unerträgliche, seelische Lasten auf das Volk legen, die Gewissen bedrängen und das Bild Gottes verdunkeln. Aber hier wie dort wird das Volk unterdrückt, werden Leute gebeugt und entrechtet. Man kann auch geistlich entrechtet werden.

            Wehe-Rufe – Droh-Botschaften statt Froh-Botschaften? Ob Jesaja nicht auch lieber Heil angesagt hätte? Aber, wenn einer am Abgrund steht, dann kann man nicht sagen: `Mach ruhig weiter so – wahrscheinlich kannst du ja fliegen.´ Dann muss man schreien: Halt! Lebensgefahr! Und wenn ein Volk am Abgrund steht, dann kann man auch nicht sagen. „Weiter so!“ Dann muss man schreien: Der Untergang droht. Wehe, wenn es so weiter geht wie gehabt. 

            Beim Nachzählen fällt es auf, Es sind, „nur“ sechs Wehe-Rufe. Keine Sieben. Nicht die Vollzahl, wie sie die Offenbarung des Johannes prägen wird. So, als bliebe noch ein Rest Hoffnung auf Umkehr bei dem, der diese Wehe-Rufe sprechen muss und bei dem, der sie durch Jesaja sprechen lässt, bei Gott. Weil er hofft, dass es reicht, sie zu rufen, um dadurch Umkehr zu bewirken. Diese Wehe-Rufe sind kein endgültiges Urteil, das unveränderlich feststeht. Sie sind Warnung: Der Weg, auf dem ihr seid, führt in den Abgrund. Wenn sie, die sie hören, sich warnen lassen, ist noch Raum zur Umkehr. 

So lese ich diese so bedrohliche Passage: Die Wehrufe zeigen, dass Gott die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat. Sie sind der Beweis, dass sein Volk Gott nicht gleichgültig geworden ist. Dass es ihm nicht egal ist, was wird. Wäre es ihm gleichgültig, könnte Gott wegsehen oder schweigend zusehen. Aber er sieht nicht weg und er schweigt nicht. Die Wehe-Rufe sind ein Indiz der bleibenden Liebe Gottes zu seinem Volk.

Zum Weiterdenken

            Die Wehe-Rufe sind an eine prosperierende Gesellschaft gerichtet, an ein Land, dem es gut geht. Wo der wirtschaftliche Erfolg fast alles ist. Die Belagerungen und außenpolitischen Bedrohungen, die sonst oft im Hintergrund von Jesajas Worten stehen, scheinen hier weit weg. Es sind Wehe-Rufe in eine Gesellschaft hinein, die gut als Wahlspruch haben könnte: „Man gönnt sich ja sonst nichts!“ Es geht dem Land doch gut. Warum also sollen wir nicht genießen, wie es ist. Dass es auch Verlierer gibt in so einer Gesellschaft, das ist gewissermaßen unausweichlich. Sind die Stimmen, die wie Jesaja den Finger auf die – vermeintlichen – Wunden legen, nicht nur sozialromantische Miesmacher?     

            Ich sehe so viele Berührungen zu Haltungen in unserer Gesellschaft, zu Vorgängen in unserer Zeit. Wir sind nicht so weit weg von denen, die Jesaja da mit seinen Wehe-Rufen angreift. Das Land steht gut da, aber die Schere zwischen arm und reich geht weiter auseinander. Es sind zu viele, die vom Wohlergehen des Landes nicht so viel spüren, die sich eher mit Existenzsicherung herumschlagen.

Der ethische Fortschritt in Sachen Achthaben auf die Schwachen, die nicht zu den Leistungsträgern der Gesellschaft gehören, hat seit 2700 Jahren in keiner Weise Schritt gehalten mit dem technischen Fortschritt. Wir verfügen über unendlich mehr Möglichkeiten als die Zeitgenossen des Jesaja. Aber, was die Ethik angeht, scheinen wir bei ihnen stehen geblieben zu sein.

Du heiliger Gott, rufst Du längst „Wehe“ über uns, unser Volk, unser Tun? Ist Dein Wehe ein Ruf der Anklage oder ein ruf Deiner Schmerzen? Wie auch immer – meine Angst: Wir hören nicht- weder die Anklage noch den Schmerz. Wir betäuben uns mit unseren Erfolgen, auch wenn sie trügerisch sind, mit unserem geliehenen Wohlergehen. Wir bauen Mauern, um den Wohlstand zu schützen.

Mein Gott, gib Du, dass wir neu hören – in unseren wirren Zeiten. Gib, dass Deine Wehe-Rufe Umkehr wirken – bei uns, bei mir. Solange noch Zeit zur Umkehr ist. Amen

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