Römer 9, 1 – 5
1 Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist, 2 dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. 3 Denn ich wünschte, selbst verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch. 4 Sie sind Israeliten, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, 5 denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch. Gott, der da ist über allem, sei gelobt in Ewigkeit. Amen.
Wir dürfen das nicht vergessen und aus den Augen verlieren: Die Worte, die Paulus bis hierhin geschrieben hat, sind Worte eines „Juden“, der in Jesus Christus seine Gerechtigkeit erfahren hat. Es sind nicht die Worte eines Griechen, der zum Glauben an den Christus gekommen ist. Dass er so glaubt und so denkt, trennt ihn von denen, mit denen ihn doch sein Herkunft verbindet.
Zugleich: die Trennung macht ihn nicht blind für die Gaben, die Gott Israel gegeben hat. Die Kindschaft, die Herrlichkeit, die Bundesschlüsse, das Gesetz, der Gottesdienst, die Verheißungen, die Väter. Das sind ihre Gaben bis in die Gegenwart, heute. Es gilt, weil es von Gott her unverbrüchlich zugesagt und zugeeignet ist. So hält Paulus daran fest, dass Israel bleibend anders ist als alle Völker, ausgezeichnet durch die Wahl Gottes. Schließlich und endlich: Aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch. Es macht die unverlierbare Würde Israels aus, dass Jesus Jude ist, dass der Christus aus Israel kommt. „Das Heil kommt von den Juden.“ (Johannes 4,22) ist eine diesen Sätzen verwandte Aussage.
Es gibt eine seltsame Gedächtnislücke in der Christenheit: Der Anfang der Nachfolge-Gemeinschaft ist durch und durch jüdisch geprägt. Die ersten Christus-Gläubigen sind Juden, die in ihm den Messias Israels erkannt haben – nach seiner Auferstehung. Wir haben diese jüdischen Glaubensbrüder und -schwestern weithin vergessen. Mit einem einigermaßen schlechten Gewissen – wegen der shoa – versuchen christliche Kirchen, inzwischen mit Israel umzugehen und die jüdischen Wurzeln neu zu finden. Sie überspringen dabei, dass es auch heute Israeliten nach dem Fleisch gibt, die an Jesus als den Messias glauben. wir müssen wohl neu lernen, den Juden Paulus, der an Jesus als seinen Christus glaubt, ernst zu nehmen. In seinem Jude-bleiben und seinem Christsein.
Ich kann diesen Abschnitt nicht lesen, ohne Scham zu empfinden. Über lange Jahrhunderte hinweg waren diese Worte des Paulus nur ein „Einschub“, fast so etwas wie ein gedanklicher Irrläufer. Der Emotion des Paulus geschuldet. Ausdruck einer persönlichen Schwäche. Weil wir als Christenheit an die Stelle Israels getreten waren, es ersetzt hatten, zählte nicht, was Paulus hier geschrieben hat. Für Paulus aber steht mit Gottes Treue zu Israel das Evangelium auf dem Spiel Die Heilsgaben Gottes an Israel können nicht veralten und verfallen. Weil sonst über dem Evangelium ja auch ein unsichtbares Verfallsdatum stehen könnte.
Diese Haltung des Paulus lässt mich fragen: Wie steht es bei uns, bei mir, mit dem Schmerz darüber, dass es viel Gleichgültigkeit dem Glauben gegenüber gibt, abgebrochene Glaubenswege, ins Leere gelaufenes Rufen zum Glauben? Kenne ich diesen Schmerz wie Paulus? Oder beantworten wir, ich, Gleichgültigkeit dem Glauben gegenüber durch Gleichgültigkeit denen gegenüber, die nicht glauben? Fragen über Fragen. Und ich spüre Unbehagen, spüre die offene Wunde, die dieses Fragen hinterlässt. Bei mir und wohl nicht nur bei mir.
Unser Volk hat sich an den Juden schuldig gemacht und ich bin dankbar, dass da viel aufgearbeitet wurde und wird. Doch ist mein Unverständnis sehr groß, warum die Evangelische Kirche die Messianischen Juden mehr oder weniger ablehnt, nicht unterstützt, nicht jubelt, dass Juden erkennen , dass Jesus Christus der ersehnte Messias ist. Paulus hätte gejubelt!