Jesaja 1, 1 – 9
1 Dies ist das Gesicht, das Jesaja, der Sohn des Amoz, geschaut hat über Juda und Jerusalem zur Zeit des Usija, Jotam, Ahas und Hiskia, der Könige von Juda.
Mit diesem ersten Satz wird die Botschaft, das Gesicht des Jesaja angesagt. Es geht um eine Schauung aus der Wirklichkeit Gottes. Dafür verwendet man auch gerne das Wort Offenbarung, dasmehr meint als eine Vision (Basisbibel), die einer entwickelt. Hinter allem, was folgen wird an Worten, Bildern, Liedern, Berichten, steht Gott als der eigentliche „Autor“. Aber nicht zeitlos, sondern in eine bestimmte Zeit hinein.
Die Angaben der Namen von Usija bis Hiskia deuten auf einen Zeitraum zwischen 787 v.Chr. bis 697 v. Chr.Das ist mehr als eine Lebenszeit!
2 Höret, ihr Himmel, und Erde, nimm zu Ohren, denn der HERR redet! Ich habe Kinder großgezogen und hochgebracht, und sie sind von mir abgefallen! 3 Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennt’s nicht, und mein Volk versteht’s nicht.
Die fassungslose Anklage Gottes: Ich habe Kinder großgezogen – aber sie haben sich abgewendet. Väterliche, sorgende Zuwendung – und sie findet. keinen Widerhall im Verhalten des Volkes
Man kann die Irritation Gottes spüren: Jeder Ochse kennt seinen Weg, und diese Kennen bewirkt, dass er der Stimme seines Herrn vertraut. Jeder Esel weiß, wo er seinen Futtertrog findet. Würde Israel seinen Herrn kennen, dann würde es seine Wege gehen. „Kennen“ ist nie nur wissen, dass es etwas gibt, wissen und glauben, dass es einen Gott gibt. Kennen schließt immer praktisches Verhalten ein, Lebenspraxis.
Wenn sich aus dem Wissen um Gott – so die Botschaft hinter den Worten – kein Tun ergibt, keine Konsequenz, nichts, was das Leben prägt, dann ist es auch nicht zum Kennen, schon gar nicht zum Erkennen gekommen. Dann ist immer noch Blindheit im Spiel. Folgenloser Glaube, der keine Alltagsgestalt gewinnt.
4 Wehe dem sündigen Volk, dem Volk mit Schuld beladen, dem boshaften Geschlecht, den verderbten Kindern, die den HERRN verlassen, den Heiligen Israels lästern, die abgefallen sind! 5 Wohin soll man euch noch schlagen, die ihr doch weiter im Abfall verharrt? Das ganze Haupt ist krank, das ganze Herz ist matt. 6 Von der Fußsohle bis zum Haupt ist nichts Gesundes an euch, sondern Beulen und Striemen und frische Wunden, die nicht gereinigt noch verbunden noch mit Öl gelindert sind.
Es klingt wie eine Totenklage, die hier angestimmt wird. Da ist nichts Heiles mehr zu sehen, da ist nur noch Schuld und Schmerz. Jesaja sieht ein Volk, das krank ist, von unten bis oben, von der Fußsohle bis zum Haupt. Es ist nicht so, dass es nur oben nicht stimmt mit dem Volk, in der Führungsschicht, oder nur unten, bei den kleinen Leuten. Der ganze „Volkskörper“ ist von Krankheit gezeichnet, tief verwundet. Und keiner macht Anstalten, Wunden zu versorgen. Weil sie alle sagen: Uns geht es doch gut!?
7 Euer Land ist verwüstet, eure Städte sind mit Feuer verbrannt; Fremde verzehren eure Äcker vor euren Augen; alles ist verwüstet wie beim Untergang SodomS. 8 Übrig geblieben ist allein die Tochter Zion wie ein Häuslein im Weinberg, wie eine Nachthütte im Gurkenfeld, wie eine belagerte Stadt. 9 Hätte uns der HERR Zebaoth nicht einen geringen Rest übrig gelassen, so wären wir wie Sodom und gleich wie Gomorra.
Aus der Anklage wird eine Gegenwartsbeschreibung: Macht doch die Augen auf: Das Land – verwüstet. Die Städte – verbrannt. Fremde sind die Nutznießer des Untergangs. So steht es um Israel, nachdem Sanherib nach dem Jahr 703 den Angriff auf Israel startet. Nur noch Jerusalem, der Zion ist nicht erobert. Aber er ist angesichts der Übermacht der Assyrer doch nur wie ein Häuslein im Weinberg, wie eine Nachthütte im Gurkenfeld.
Noch steht der Zion. Noch gibt es einen geringen Rest, den Gott übrig gelassen hat. Aus der Sicht der Assyrer: nur einen Handvoll Leute. Aus der Sicht des Jesaja – der Rest, den Gott bewahrt. Dem er seine Gnade zuwendet. Dieser Rest macht den Unterschied zwischen Israel und Sodom und Gomorra.
Zum Weiterdenken
Gott in seiner vergeblichen Liebesmühe. Der ein Stück ratlos zu fragen scheint: Wie soll es denn weitergehen? Was habe ich noch für Möglichkeiten? Das löst Erinnerungen an eigene Erfahrungen aus: Manchmal standen meine Eltern da und haben gefragt: Was sollen wir denn noch machen? Und ich habe Menschen vor Augen, an denen mir lag und liegt und frage: Was soll ich denn noch tun? Was ist denn noch möglich. Die Ratlosigkeit Gottes spiegelt mir die eigenen Ratlosigkeiten mich. Mir hilft das.
Krank an Leib und Seele – so erlebe ich vieles in unserer Gesellschaft. Ich sehe Krimis und sage: Verlorene Seelen, kranke und krankmachende Zustände. Ich höre: ich bin so frei und sehe eine Freiheit, die nicht stärkt, sondern kränkt. Ich sehe Tagesschau und höre: Eine kranke Welt. Verblendung, die die eigene Schuld nicht wahrnimmt. Worte, die einen über die eigene Zeit, das eigene Verhalten tief nachdenklich machen können. Wo laufen wir, in unserer Gesellschaft, ohne es zu merken, in die falsche Richtung? Und wo sind die, die Wunden verbinden, Striemen heilen, auf den richtigen Weg zurück finden helfen? Wäre das nicht der Auftrag der Kirchen?
Nur: Sind wir als Kirche nicht längst wie eine armselige Hütte im Gurkenfeld? Wir sind doch schon lange kein Fels mehr in der Brandung der Meinungsfluten. Wir werden mitgespült, mitgeschwemmt. So wie die Volksparteien kränkeln, kränkelt auch die Volkskirche, weil keiner mehr erkennt, was ihr Markenkern ist, wofür sie steht, woher sie ihre Identität gewinnt. Es ist an der Zeit, dass wir uns unsere Wunden eingestehen, die große Schwäche. Dass wir aufhören, Träume von neuer Größe zu träumen oder in der glorreichen Vergangenheit zu schwelgen. Angesagt ist das Eingeständnis: verwundet von unten bis oben. Nichts mehr, was gesund wäre. Und angesagt ist die Suche nach dem Herrn, die Umkehr, die ihm Recht gibt.
Mein Gott und Herr, ich sehe Dich ratlos, schmerzerfüllt. Klagend um Dein Volk. Ich sehe Dich, der am Weg Deines Volkes leidet – verirrt wie Schafe, die keinen Hirten haben. Deine Worte fordern uns heraus, mit offenen Augen hinzusehen, auch da, wo es zum Wegsehen ist.
Gib du doch, dass wir neu zu Dir umkehren. Dass wir es beherzigen, was hinter Deiner Klage steht die Sehnsucht danach, dass wir mit allen Klagen und allem Schmerz Dich suchen. Wir müssen nicht im Alleingang fertig werden mit der Not, die zum Himmel schreit. Du willst unser Rufen hören. Amen