Orientierungs-Verluste

Jesaja 1, 21 – 31

21 Ach, wie ist zur Hure geworden die treue Stadt! Sie war voll Recht, Gerechtigkeit wohnte darin; nun aber – Mörder. 22 Dein Silber ist Schlacke geworden und dein Wein mit Wasser verfälscht. 23 Deine Fürsten sind Abtrünnige und Diebsgesellen, sie nehmen alle gern Geschenke an und trachten nach Gaben. Den Waisen schaffen sie nicht Recht, und der Witwen Sache kommt nicht vor sie.

Ach. Es klingt wie Totenklage und Anklage in einem. Eine Totenklage über eine Stadt, die noch in voller Blüte steht. Weil Gott weiter sieht, weil er sich nicht blenden lässt vom früheren Glanz. Es gab eine andere Zeit, auf die das Wort zurück blickt – voll Recht, Gerechtigkeit, Silber, Wein. Nichts davon ist übrig – das Silber verdorben, der Wein verfälscht, die Gerechtigkeit mit Füßen getreten.  Es geht um das Herumirren ohne festen Halt. Die Stadt weiß nicht mehr, zu wem sie gehört.  Es ist der Aufschrei in einem Gemisch aus Schmerz und Zorn dessen, der das Werk seiner Liebe ganz und gar verdorben sieht.

Wie konnte es dazu kommen, dass Israel so die Spur Gottes verliert? Wie konnte es dazu kommen, dass sie nach dem Anfang in der Wüste so abirren? Es ist eine Verlustgeschichte – auf den wundersamen Anfang folgt der Abstieg, der Abfall. Diese Sicht führt auch dazu, die Zeit in der Wüste zu verklären als die Zeit der ersten Liebe. Vielleicht ist das Nichtstellen der Frage und das Nichtsuchen nach Gründen ja ein Hinweis: Es hilft nichts, in der Vergangenheit Schuld aufzuspüren, Schuldigen zu benennen.

Verloren gegangen ist, woran Gott so viel liegt – das Recht der Waisen und die Sache der Witwen. Das zieht sich ja als ein roter Faden durch das Gesetz, wie es von Mose her überliefert ist – die Fürsorge Gottes in seinem Recht gilt besonders den Witwen und Waisen. Darin erweist sich Israel als das Mustervolk Gottes, dass es die Geringen achtet und schützt, dass niemand ein Mensch zweiter Klasse werden darf.

24 Darum spricht der Herr, der HERR Zebaoth, der Mächtige Israels: Wehe! Ich werde mir Trost schaffen an meinen Feinden und mich rächen an meinen Widersachern 25 und will meine Hand wider dich kehren und wie mit Lauge ausschmelzen, was Schlacke ist, und all dein Zinn ausscheiden.

Gott findet sich nicht mit den Zuständen ab. Nicht klaglos und nicht hilflos. Sie haben die Gefahr ihres Handelns nicht verstanden, die Mächtigen Israels: indem sie Gottes Recht missachten, machen sie sich Gott zu Widersachern, machen sie sich selbst zu seinen Feinden. Gott ist nicht neutral. Muss einem das nicht den Atmen nehmen, auch den heutigen Lesenden: Die Feinde Gottes sind nicht die, die sich als Atheisten bezeichnen, die der Kirche den Rücken gekehrt haben. Feinde Gottes sind die, die mitten in seinem Volk den Gehorsam gegen sein Wort schuldig bleiben. Die das Wort und Gott dadurch in Misskredit bringen, dass sie sich anpassen an Unrechts-Systeme, an den Wettlauf um Macht und Einfluss.

Die Antwort Gottes: Ich will meine Hand wider dich kehren. Es war durch die Geschichte Israels sein Schutz, dass Gott seine Hand über es hielt, dass er sie gegen Israels Feinde kehrte. Jetzt wird Gott mit Israel umgehen wie mit den Feinden von außen. Diese Schutzhand zieht er zurück!

26 Und ich will dir wieder Richter geben, wie sie vormals waren, und Ratsherren wie im Anfang. Alsdann wirst du eine Stadt der Gerechtigkeit und eine treue Stadt heißen. 27 Zion wird durch Recht erlöst werden, und wer dorthin umkehrt, durch Gerechtigkeit.

Vielleicht kommt es ja doch zu einem Neuanfang. Gott jedenfalls lässt nichts unversucht – er gibt neue, andere Richter und Ratsherren wie am Anfang. Vielleicht macht Jerusalem dann ja auch wieder den althergebrachten Namen Ehre und trägt sie wieder zu Recht. Stadt der Gerechtigkeit und treue Stadt. Dann würde es wieder zur Zuflucht werden können für alle, die Recht und Gerechtigkeit suchen.Wenn man so will – wir lesen hier das Resozialisierungsprogramm Gottes. Vorsichtiger gesagt: Israel soll wieder werden, was es nach seiner Berufung immer sein und werden sollte. 

28 Die Übertreter aber und Sünder werden allesamt zerbrochen werden, und die den HERRN verlassen, werden umkommen. 29 Denn sie sollen zuschanden werden wegen der Eichen, an denen ihr eure Lust habt, und ihr sollt schamrot werden wegen der Gärten, die ihr erwählt habt. 30 Denn ihr werdet sein wie eine Eiche mit dürren Blättern und wie ein Garten ohne Wasser; 31 und der Starke wird sein wie Werg und sein Tun wie ein Funke, und beides wird miteinander brennen und niemand löscht.

Die Übertreter scheitern an sich selbst. Sie suchen Hilfe, wo keine Hilfe ist. Bei den Eichen, in den Gärten. Dort, wo es die alten kanaanäischen Kultorte gab. sie sind ja nicht mit der Landnahme Israels ein für alle Mal verschwunden.

Zum Weiterdenken

Es ist nicht angesagt, aus heutiger Sicht einigermaßen hochmütig auf diese Irrwege zu blicken. Erleben wir doch immer wieder die Wiederkehr von heidnischen Verhaltensmustern in einem Land, das sich seit Jahrtausend christianisiert wähnt. 

Heiliger Gott, ohne Dich irren wir nur noch durch die Welt.  Ohne Dich fehlt uns der Halt, die Zuflucht, der Wegweiser. Es ist wahr: Es geht ohne Gott. in die Dunkelheit. Wir verlieren alles – die Orientierung, den Halt, die Zuflucht, die Geborgenheit und darin Dich.

Es erschreckt mich, dass so vielen nichts fehlt, wenn Du nicht mehr im Spiel bist. Dann bleibt nur, hinter denen herzulaufen, die vorneweg sind, lautstark, meinungsstark. Und auf einmal machen wir mit beim Rennen nach den besten Plätzen. Gib Du, dass wir uns warnen lassen vor diesem Wettlauf, in dem es nur Verlierer gibt. Amen

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