Nur ein Lied

Jesaja 5, 1 – 7

            Es muss nicht zwangsläufig so sein, dass ein neuer Text immer am Vorhergehenden anknüpft. Auch die Situation des Redenden kann eine andere sein. So ist es auch hier. Das nachfolgende „Weinberglied“ ist nicht notwendig die Fortsetzung des vorherigen Textes. Es steht hier einfach hinter den Heilsworten aus 4, 2 – 6. Umso schärfer aber ist der Kontrast zu diesen Worten.

1 Wohlan, ich will meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg.

               Dabei fängt alles harmlos an. Ein Lied will der Sprecher singen. Bei einem Weinfest?   Von seinem Freund, für seinen Freund. Schon die Ankündigung lässt aufhorchen. Wer ist der „Liebling“ – so wörtlich im Hebräischen – des Sängers? Redet er so von Gott? Und wissen das seine Hörer von Anfang an? Was „Normalhörer“ mit diesen Anfangsworten hören dürften, kann auch anders sein: Da singt einer für seinen liebsten Freund von dessen Weinberg, das ist die Braut, und schlüpft so in die Rolle des Brautführers. 

Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. 2 Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte.

            Es ist die Welt, wie die Zuhörer sie kennen: Da müht sich einer um seinen Weinberg. Er lässt es an nichts fehlen, nicht an Sorgfalt, nicht an Aufmerksamkeit, nicht an Zuwendung. Er tut alles, was getan werden muss, damit es gute Früchte gibt.

            Es ist das Bild für ein Ringen um eine Beziehung. Alles wird versucht, damit es gut wird. Alles nimmt einer, eine in Kauf, um den Weg zu dem anderen zu finden, um es zu einem guten Miteinander kommen zu lassen. Aber: Es wird nicht. Im Bild: Die Trauben sind Kümmerlinge. Sauer. Bitter. Der Weinberg ist eine einzige große Enttäuschung. 

            Ohne Bild: Diese Liebe ist eine einzige große Enttäuschung. Unabhängig davon, ob der Weinberg „betrogen“ hat, die Braut untreu war. Es ist eine Liebe ohne Echo.

3 Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! 4 Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte?

            Der Ton wechselt. Jetzt ist es kein harmloses Lied mehr, beim Weinfest, zu einer Hochzeit. Die Zuhörer werden in das Lied einbezogen. Was haltet ihr davon? Was macht man mit so einem Weinberg? Unversehens geraten sie in die Rolle des Schiedsrichters.

            Und es ist auch nicht mehr so, dass der Sänger das Wort hat. Jetzt redet der Freund selbst. Er wird zum Ankläger, der einen Schiedsspruch erbittet, einfordert. Und die Zuhörer ahnen schon: Aus dieser Geschichte kommen wir nicht mehr einfach so heraus. Aber sie antworten nichts. Keine Reaktion der Zuhörenden wird notiert. Oder schweigen sie doch nicht?

 5 Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er verwüstet werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. 6 Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen.

            Mit Wohlan antwortet der Redende, auch hier der zuvor besungene Freund. Auf Rufe, die ihn zum Handeln auffordern? Oder doch auf das Schweigen? Jedenfalls: Er sagt, was er tun will. Er bleibt bei seinem Bild vom Weinberg, aber umso härter ist die Botschaft. Dieser Weinberg hat keine Zukunft mehr. Er ist aufgegeben und wird aufgelassen. Alles, was an Mühe in seine Instandhaltung gesetzt worden ist, verwandelt sich jetzt in Zerstörungshandeln. Er wird zum Brachland gemacht. Preisgegeben an das, was so wächst, ohne Pflege, Disteln und Dornen. Selbst das Wasser wird ihm verweigert, sogar das Wasser des Himmels, der Regen.  

            Bis hierhin ist es ein Lied, ungewöhnlich zwar, aber doch nur ein Lied. Jetzt schlägt die ganze Szene mit dem nachfolgenden Satz endgültig um. 

 7 Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.

            Auch dem Letzten wird jetzt klar sein, was gerade geschieht. Aus einem harmlosen Lied wird ein Frontalangriff. Auf das Haus Israel und die Männer Judas. Sie sind es ja, an die der HERR Zebaoth seine Mühe gewandt hat, denen er seine Liebe geschenkt hat, die er erwählt hat. An nichts hat er es fehlen lassen. Er hat sein Gebot gegeben, sie seine Fürsorge erfahren lassen. Aber kein Echo, keine Antwort. Kein Leben, das auch nur annähernd Leben in der Spur seiner Weisungen wäre. 

Zum Weiterdenken

            Statt Rechtsspruch – Rechtsbruch, statt Gerechtigkeit – Geschrei über Schlechtigkeit. Die Antwort auf den Ruf zu einem Leben in Treu und Gerechtigkeit bleibt aus. Stattdessen wird das Recht gebeugt und die Gerechtigkeit mit Füßen getreten. An die Stelle des solidarischen Lebens als Brüder und Schwestern im Volk Gottes ist eine Lebens-Praxis getreten, in der einer des anderen Wolf wird und die Starken die Schwachen zu Boden drücken und zur „Fußmatte“ (C. Zuckmayer, Der Hauptmann von Köpenick) entwürdigen. Damit ist zunächst alles gesagt. Was jetzt noch folgen kann, ist nicht mehr Anklage, sondern Urteil.

Sind das alles nur vergangene Texte, nur für die Hörer damals? Oder müssen wir heute sie als an uns gerichtet hören? An eine reiche Gesellschaft, die sich selbst feiert? An eine reiche Kirche, die sich um sich selbst dreht? An Christen/Christinnen, die zwar das Wohlwollen Gottes wollen, die auf seinen Beistand setzen, die es aber versäumen, die eigene alltägliche Lebenspraxis an diesem gnädigen Umgang Gottes wirklich auszurichten?

Manchmal erschrecke ich, mein Gott, wie wir von Dir reden, über Dich reden. Manchmal macht es mich traurig. Dass so viele nicht mehr nach Dir rufen. Du bist wie überflüssig geworden. In unsere Welt, in der wir alles haben – nur Friede und Gerechtigkeit sind ein rares Gut geworden.  

Gott, es geht nicht gut mit uns, wenn Du aufhörst, uns als Deinen Weinberg zu bearbeiten. Zurück bleibt die Erinnerung, die Wehmut, und unsere Seelen verlieren ihren Halt. Darum bitte ich demütig: Halte Du fest an uns. Gib noch Frist zur Umkehr, noch Zeit aus Deiner Ewigkeit. Gnadenzeit. Amen

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