Keine Zeit mehr zur Umkehr

Offenbarung 18, 1 – 24

1 Danach sah ich einen andern Engel herniederfahren vom Himmel, der hatte große Macht, und die Erde wurde erleuchtet von seinem Glanz. 2 Und er rief mit mächtiger Stimme: Sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon, die Große, und ist eine Behausung der Teufel geworden und ein Gefängnis aller unreinen Geister und ein Gefängnis aller unreinen Vögel und ein Gefängnis aller unreinen und verhassten Tiere. 3 Denn von dem Zorneswein ihrer Hurerei haben alle Völker getrunken, und die Könige auf Erden haben mit ihr Hurerei getrieben, und die Kaufleute auf Erden sind reich geworden von ihrer großen Üppigkeit.

            Ein himmlischer Urteilsspruch über Babylon, die Große. Ein Urteilsspruch, der das Urteil schon vollstreckt sieht. Das macht es so schwer, das hier Gesagte historisch zu verorten. Von einem Fall Roms kann über Jahrhunderte hinweg keine Rede sein. Erst in der Völkerwanderung zerbricht Roms Macht und wird die Stadt erobert.

            Also ist wohl wieder einmal andere Tiefenschicht und Tiefensicht im Spiel. Es geht um das Gefängnis, das sich selbst baut aus den unkündbaren Regeln der von der Gier nach Geld getriebenen Welt, des kapitalistischen Systems. Ist das nur längst überholte Kapitalismus-Kritik, ausnahmsweise aus dem Mund eines Christen? Oder trifft es eben doch die Wirklichkeit einer Gesellschaft, die allabendlich den DAX-Kurs wie ein Himmelszeichen wahrnimmt – hoffend und bangend?     

4 Und ich hörte eine andre Stimme vom Himmel, die sprach: Geht hinaus aus ihr, mein Volk, dass ihr nicht teilhabt an ihren Sünden und nichts empfangt von ihren Plagen!

            Es ist ein bisschen merkwürdig: Diese Aufforderung, hinauszugehen geht dem Urteilsspruch nicht voraus. Sie folgt ihm. Sie will, dass die Christen nicht mit in den Strudel der Ereignisse gerissen werden. Historisch mag es zutreffen, dass es prophetische Worte in der jungen christlichen Gemeinde gab, die sie rechtzeitig vor der Belagerung Jerusalems auswandern ließen aus der Stadt. Damit ist allerdings noch nicht alles ausgeschöpft, was an Bedeutung in diesem Wort liegen wird.

5 Denn ihre Sünden reichen bis an den Himmel und Gott denkt an ihren Frevel. 6 Bezahlt ihr, wie sie bezahlt hat, und gebt ihr zweifach zurück nach ihren Werken! Und in den Kelch, in den sie euch eingeschenkt hat, schenkt ihr zweifach ein! 7 Wie viel Herrlichkeit und Üppigkeit sie gehabt hat, so viel Qual und Leid schenkt ihr ein! Denn sie spricht in ihrem Herzen: Ich throne hier und bin eine Königin und bin keine Witwe, und Leid werde ich nicht sehen.

            Noch einmal wird es benannt: Ihre Sünden reichen bis an den Himmel. Ganz so wie das Geschrei über Sodom und Gomorra bis vor Gott im Himmel gekommen war. (1. Mose 18,20.21) Sie aber, die stolze Stadt, sieht nur ihren eigenen Glanz und Reichtum. Ihre Herrlichkeit und Üppigkeit. Das Unrecht schreit zum Himmel. Tag für Tag sehen wir das. In den Fürbitten im Gottesdienst leihen wir den Leidenden unsere Stimme. „Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind. Tu deinen Mund auf und richte in Gerechtigkeit und schaffe Recht dem Elenden und Armen.“ (Sprüche 31, 8-9)

            Aber zum Glück nicht: Vergilt! Es ist nicht die Sache der Gemeinde, das Gericht an der Hure zu vollziehen. Der Aufruf: Bezahlt ihr…, schenkt ihr zweifach ein … geht nicht an die Christen. Rache ist nicht ihre Sache. Hier folge ich Paulus: „Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes.“ (Römer 12,9)

 8 Darum werden ihre Plagen an „einem“ Tag kommen, Tod, Leid und Hunger, und mit Feuer wird sie verbrannt werden; denn stark ist Gott der Herr, der sie richtet. 9 Und es werden sie beweinen und beklagen die Könige auf Erden, die mit ihr gehurt und geprasst haben, wenn sie sehen werden den Rauch von ihrem Brand, in dem sie verbrennt. 10 Sie werden fernab stehen aus Furcht vor ihrer Qual und sprechen: Weh, weh, du große Stadt Babylon, du starke Stadt, in einer Stunde ist dein Gericht gekommen!

            Das freilich steht fest: der Tag kommt, an dem dieses System kollabiert. Zusammenbricht an seinen inneren Widersprüchen.  Kein schleichender Prozess. An einem Tag. Alle Krisen, die über die Welt gehen, irgendwie bewältigt werden, sind wie der Hinweis auf die eine große kommende Krise. Am Ende der Zeiten. Dann wird das Klagen laut sein und das Erschrecken groß. „Die Stätten des modernen Lebens sinken in Schutt und Asche.“ (E. Schnepel, aaO. S. 224) Katastrophenfilme und Katastrophen-Bilder unserer Zeit illustrieren solche Sätze geradezu beängstigend präzise. Vor dem inneren Augen entstehen fast von selbst Bilder. 

11 Und die Kaufleute auf Erden werden weinen und Leid tragen um sie, weil ihre Ware niemand mehr kaufen wird: 12 Gold und Silber und Edelsteine und Perlen und feines Leinen und Purpur und Seide und Scharlach und allerlei wohlriechende Hölzer und allerlei Gerät aus Elfenbein und allerlei Gerät aus kostbarem Holz und Erz und Eisen und Marmor 13 und Zimt und Balsam und Räucherwerk und Myrrhe und Weihrauch und Wein und Öl und feinstes Mehl und Weizen und Vieh und Schafe und Pferde und Wagen und Leiber und Seelen von Menschen. 14 Und das Obst, an dem deine Seele Lust hatte, ist dahin; und alles, was glänzend und herrlich war, ist für dich verloren und man wird es nicht mehr finden.

            Irgendwann merkt es auch der Letzte: Geld kann man nicht essen. Und Luxus ist nichts, was dem Leben Sinn gibt. Was für ein Urteil: Alles, was glänzend und herrlich war, ist für dich verloren und man wird es nicht mehr finden. Auf der Flucht zählt allein das nackte Leben. Unvorstellbar, solange man vom eigenen Reichtum umgeben und verblendet ist.

15 Die Kaufleute, die durch diesen Handel mit ihr reich geworden sind, werden fernab stehen aus Furcht vor ihrer Qual, werden weinen und klagen: 16 Weh, weh, du große Stadt, die bekleidet war mit feinem Leinen und Purpur und Scharlach und geschmückt war mit Gold und Edelsteinen und Perlen, 17 denn in „einer“ Stunde ist verwüstet solcher Reichtum! Und alle Schiffsherren und alle Steuerleute und die Seefahrer und die auf dem Meer arbeiten standen fernab 18 und schrien, als sie den Rauch von ihrem Brand sahen: Wer ist der großen Stadt gleich? 19 Und sie warfen Staub auf ihre Häupter und schrien, weinten und klagten: Weh, weh, du große Stadt, von deren Überfluss reich geworden sind alle, die Schiffe auf dem Meer hatten; denn in „einer“ Stunde ist sie verwüstet!

            In einer Stunde ist alles dahin. Gleich dreimal heißt es: In einer Stunde. (18,10;18,17,18,19) Wieder stelle ich mir die Frage, ob sich in solchen Worten nicht auch die Erinnerung an den Untergang von Pompei spiegelt. Zumindest liefert diese zeitgeschichtliche Katastrophe womöglich Anschauungsmaterial.  Es bleibt nur noch das Sehen aus Abstand, die Klage über den Untergang, der Schmerz über die Verwüstung von so viel Reichtum. Kulturgüter von unschätzbarem Wert – für immer zerstört.

            Keine Zeit mehr zur Umkehr. Keine Zeit mehr zum Umsteuern. Weil alles so schnell geht. Was ist das für eine Botschaft – zu hören in einer Zeit, in der alles immer schneller gehen muss, in der wir in „Echtzeit“ über alles informieren sein wollen, was geschieht, in der der Raum seine Weite verlieren soll, weil in Echtzeit alles gleichzeitig ist – weltweit und alles dem Eingriff von Irgendwoher direkt unterliegt – weltweit. Es ist erschreckend, in Echtzeit zu erleben – Bilder wie in einer Endlos-Schleife zu sehen: 9. September 2003 der Terrorangriff auf das World Trade Center, am 2. Weihnachtstag 2004 die Monsterwelle des Tsunami in Thailand.

Wir fangen an zu ahnen: Was uns als Fortschritt angepriesen wird, weil es immer und überall das heilvolle Eingreifen in Krisen ermöglicht, ob bei Operationen oder bei Naturkatastrophen, die die lokalen Hilfskräfte überfordern, hat doch seine spürbar düsteren Schattenseiten, auch wenn wir sie nicht wahrhaben wollen. 

20 Freue dich über sie, Himmel, und ihr Heiligen und Apostel und Propheten! Denn Gott hat sie gerichtet um euretwillen.

            Was für ein krasser Kontrast gegenüber den vorangegangenen Worten – dieser Aufruf zur Freude. Verständlich, wenn ich mir vor Augen halte: die das damals hören, für die es geschrieben ist, sind gejagt worden, gehetzt, geschändet. Für mich in meiner Sicherheit bleibt es ein fremdes Wort, das mich auch befremdet.   

21 Und ein starker Engel hob einen Stein auf, groß wie ein Mühlstein, warf ihn ins Meer und sprach: So wird in einem Sturm niedergeworfen die große Stadt Babylon und nicht mehr gefunden werden. 22 Und die Stimme der Sänger und Saitenspieler, Flötenspieler und Posaunenbläser soll nicht mehr in dir gehört werden, und kein Handwerker irgendeines Handwerks soll mehr in dir gefunden werden, und das Geräusch der Mühle soll nicht mehr in dir gehört werden, 23 und das Licht der Lampe soll nicht mehr in dir leuchten, und die Stimme des Bräutigams und der Braut soll nicht mehr in dir gehört werden. Denn deine Kaufleute waren Fürsten auf Erden, und durch deine Zauberei sind verführt worden alle Völker; 24 und das Blut der Propheten und der Heiligen ist in ihr gefunden worden und das Blut aller derer, die auf Erden umgebracht worden sind.

            Kein Leben mehr. Verödete Straßen, leere Häuser. Der Handel ist völlig zum Erliegen gekommen. Nur noch eine Totenstadt. Nur noch Trümmerfelder – äußerlich und innerlich. Selbst die Liebe zwischen Mann und Frau findet keine Sprache, keinen Ausdruck mehr. Vor dem inneren Auge sehe ich Bilder wie nach einem Atom-Krieg. Bilder, die ich, Gott sei Dank, nicht aus eigener Erfahrung, sondern nur aus literarischen Texten kenne.

            In einer der härtesten Passagen des Jeremia-Buches heißt es: „So spricht der HERR: Du sollst in kein Trauerhaus gehen, weder um zu klagen noch um zu trösten; denn ich habe meinen Frieden von diesem Volk weggenommen, die Gnade und die Barmherzigkeit, spricht der HERR. Große und Kleine sollen sterben in diesem Lande und nicht begraben noch beklagt werden, und niemand wird sich ihretwegen wund ritzen oder kahl scheren. Auch wird man keinem das Trauerbrot brechen, um ihn zu trösten wegen eines Toten, und auch nicht den Trostbecher zu trinken geben wegen seines Vaters oder seiner Mutter. Du sollst auch in kein Hochzeitshaus gehen, um bei ihnen zu sitzen zum Essen und zum Trinken. Denn so spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Siehe, ich will an diesem Ort vor euren Augen und zu euren Lebzeiten ein Ende machen dem Jubel der Freude und Wonne, der Stimme des Bräutigams und der Braut.“ (Jeremia 16, 5 – 9)

            Das Wort an Jeremia, als an einen Einzelnen gerichtet, wird hier zur Wirklichkeit weltweit. Es ist, als würde das Gericht, das früher über Jerusalem wegen ihrer Treulosigkeit erging, jetzt erweitert auf die ganze Welt. Die Worte des Engels sind kein Triumphlied mehr, sondern „ein lyrisches, fast zartes Totenlied.“  (H. Lilje aaO. S. 215) Das Leben ist erloschen. Der Glanz ist dahinter. Die Lichter sind ausgegangen. Alle.

            Die Wirklichkeit hat sich enthüllt als das, was sie in Wahrheit war: eine große Lüge. Verführung. Das Blut der Verfolgten hat zum Himmel geschrien. Und Gehör gefunden. Und Gott? Er trauert – auch über diese große Stadt. Anders kann ich mir Gott nicht denken. 

Zum Weiterdenken

Das Kapitel liest sich wie eine große Abrechnung mit dem System des Handels und der Gewinnmaximierung. Man muss schon die Augen fest schließen, um die Parallelen zu unserer Zeit heute nicht zu sehen. Man wird die Worte sicherlich auch als Warnung an uns hören dürfen oder gar hören müssen: Von der Geisteshaltung des Kapitalismus soll sich die Gemeinde Christi trennen. Sich nicht infizieren lassen. Sich nicht gemein machen. Es braucht inneren Abstand und äußere Trennung.

Wo dieser Abstand nicht gewahrt wird, dringt die Geisteshaltung des Kapitalismus tief in das Denken auch der Kirchen ein. Es kommt nicht von ungefähr, dass vielerorts der Eindruck entsteht, dass in den Kirchen schon lange nicht mehr „das Wort“ die Richtung angibt, sondern die Zahlen, die der Etat her gibt und die Denkweisen, wie sie Juristen und Unternehmensberatern zu eigen sind, die auf Synergien setzen, auf Verschlankung, auf Rationalisierung und optimale Darstellung nach innen und außen. Wir sind nur noch Organisation unter Organisationen, dem gleichen Gesetz unterworfen und verpflichtet wie alle. Nicht mehr Leib des Herrn. Nicht mehr „weltfremd“ (Benedikt XVI.), sondern längst weltläufig. Weltgewandt.    

Herr des Himmels, ich erschrecke über die Nähe zu unserer Zeit. Ich erschrecke, weil ich spüre, auf welch schwankenden Boden unser Wohlstand steht, wie gefährdet unsere Sicherheit ist. Wie viel unser Lebensstandard das weltweite Leid mit verursacht. Wenn wir unseren westlichen Lebensstil nicht ändern – werden wir dann nicht irgendwann vergeblich nach Erbarmen rufen?

Gib Du in unsere Zeit hinein den Geist der Umkehr. Weg von Macht und Größenwahn, von Gewalt und Besitzstandswahrung. Lass uns umkehren, damit wir uns nicht selbst zu Grunde richten. Zeige Du uns Wege aus der Gefahr und lass sie uns gehen. Kyrie eleison. Herr erbarme Dich. Amen

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