Gott setzt einen neuen Anfang

Jesaja 14, 1 – 23

1 Denn der HERR wird sich über Jakob erbarmen und Israel noch einmal erwählen und sie in ihr Land setzen. Und Fremdlinge werden sich zu ihnen gesellen und dem Hause Jakob anhangen. 2 Und die Völker werden Israel nehmen und an seinen Ort bringen, und dann wird das Haus Israel sie als Knechte und Mägde besitzen im Lande des HERRN. Und sie werden gefangen halten die, von denen sie gefangen waren, und werden herrschen über ihre Bedränger.

               Der HERR macht einen neuen Anfang. Erbarmen und Erwählen – beides sind Grundworte. Erbarmen kennzeichnet das Handeln Gottes jenseits des Gerichtes. Erwählen beschreibt die Zuwendung, von der Israel von Anfang an lebt – und jetzt erneut leben kann. Hat Israel in den geschichtlichen Katastrophen Verwerfung erfahren, so erfährt es jetzt: Gottes Erbarmen zeigt sich darin, sie noch einmal zu erwählen und sie in ihr Land zu setzen.

            Dabei kommt es zu einer Umkehrung der Verhältnisse, zu einem regelrechten Tausch: Die Knechte und Mägde sein mussten, werden zu Herren, und ihre Herren werden zu ihren Knechten und Mägden; die gefangen waren, werden frei; ihre „Gefängniswärter“ werden zu Gefangenen. Es ist der Traum aller geknechteten Völker: Einmal werden die Plätze vertauscht und wir werden die sein, die das Sagen haben, die herrschen. Diese kühne Vision wird – soweit ich das geschichtlich sehen kann, nie politisch greifbare Wirklichkeit. Aber sie ist immer eine Hoffnung Israels.

            Darauf hofft Israel: Die Welt wird auf den Kopf gestellt. Das ist umso bemerkenswerter, weil dieser Tausch die seitherige Weltmacht betrifft. Sie stürzt völlig ab, wird bedeutungslos, am Boden zerstört. Schaut man die Geschichte des Umfeldes Israel in den Jahren zwischen 700 und 300 an, so gibt es genügend Beispiele als Beleg für diese Worte. Es gibt eine rasche Abfolge der „Weltreiche“, der Großkönige. Auf die Assyrer folgen die Babylonier, denen wiederum die Perser ein Ende machen. Das persische Reich seinerseits bricht unter dem Ansturm Alexanders des Großen zusammen. In dieser Zeitspanne ist Ägypten zwischendurch mal mehr, mal weniger bedeutend als Machtfaktor im Spiel. Alles in der relativ kurzen Zeit von 400 Jahren. 

3 Und zu der Zeit, wenn dir der HERR Ruhe geben wird von deinem Jammer und Leid und von dem harten Dienst, in dem du gewesen bist, 4 wirst du dies Lied anheben gegen den König von Babel und sagen:

            Es geht ein großes Aufatmen durch die Region. Einmal mehr kommt es zu der Wendung, die Jesaja immer wieder gebraucht: zu der Zeit. Wir würden sagen: Dann. Es ist, so muss man wohl denken und lesen, ein Tag Jahwes, der die Wende bringt. Den völligen Umsturz. Und doch, denke ich, ist hier nicht schon das Weltgericht im Blick. Jesaja sprengt hier nicht die Zeit der Welt und sagt Endzeit an. Er sagt „nur“ das Ende einer Weltmacht an.

            Man kann es überlesen: Jesaja greift in die Schriften Israels zurück: Dass der HERR Ruhe gibt, ist eine der Leitaussagen des Josua-Buches und auch der Richter-Erzählungen. Ruhe dem Land und Ruhe dem Volk im Land. Die Zeit der Knechtschaft ist vorbei, das „drückende Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und der Stecken ihres Treibers zerbrochen.“ (9,3)

            Es ist Zeit für neue Lieder. Nicht mehr die alten Klagelieder. Nicht mehr die Totenklage über Jerusalem und Juda, über ganz Israel. Ein „Spottlied“ über die gefallene Großmacht.

Wie ist’s mit dem Treiber so gar aus, und das Toben hat ein Ende! 5 Der HERR hat den Stock der Gottlosen zerbrochen, die Rute der Herrscher. 6 Der schlug die Völker im Grimm ohne Aufhören und herrschte mit Wüten über die Nationen und verfolgte ohne Erbarmen. 7 Nun hat Ruhe und Frieden alle Welt und jubelt fröhlich. 8 Auch freuen sich die Zypressen über dich und die Zedern auf dem Libanon und sagen: »Seit du daliegst, kommt niemand herauf, der uns abhaut.«

            Es ist Gottes Tat, dass die Großmacht gefallen ist. Es ist Gottes Tat, dass ihrem Wüten ein Ende gemacht ist. Es ist Gottes Tat, dass alle Welt nun Ruhe und Frieden hat. Sogar die Zypressen und die Zedern sind wie befreit. Sie werden nicht mehr gnadenlos abgeholzt. Ein neues Umweltbewusstsein kann Raum greifen.

            Man muss es sich klar machen: Das ist die Sicht derer, die unter der Weltmacht gelitten haben. Aus der Sicht der Weltmacht wird hier die Katastrophe gefeiert, von denen, die kurz zuvor noch Knechte und Mägde waren.

9 Das Totenreich drunten erzittert vor dir, wenn du nun kommst. Es schreckt auf vor dir die Toten, alle Gewaltigen der Welt, und lässt alle Könige der Völker von ihren Thronen aufstehen, 10 dass sie alle anheben und zu dir sagen: »Auch du bist schwach geworden wie wir, und es geht dir wie uns.  11 Deine Pracht ist herunter zu den Toten gefahren samt dem Klang deiner Harfen. Gewürm wird dein Bett sein und Würmer deine Decke.«

            Jetzt wird es vollends ironisch. So kann nur singen, reden, wer zuvor tief gedemütigt worden ist. Hier bricht sich lange aufgestaute Angst und auch Hass Bahn. Die, die Macht auf Erden abgeben mussten, taugen jetzt allenfalls noch dazu, das Totenreich ein wenig in Aufruhr zu versetzen. Aber in Wahrheit ist das doch nichts! „Er, der alle Könige und Gewaltigen der Erde an Macht übertraf, ist nun ein wesenloser Schatten wie sie.“ (O. Kaiser, aaO. S. 33) Alle Herrlichkeit ist dort nur noch ein Schatten. Es wird sichtbar, dass schon die irdische Größe nur Schein war,

            Es folgt ein fast nahtloser Übergang. Im Herrscher wird ja immer die Weltmacht mitgesehen.  So wird aus der Totenklage, die angestimmt ist, über den Herrscher, der dahin muss, ein Spottlied über die Weltmacht. Fällt der Herrscher, ist auch die Weltmacht nur noch eine leere Hülse.

12 Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern! Wie wurdest du zu Boden geschlagen, der du alle Völker niederschlugst! 13 Du aber gedachtest in deinem Herzen: »Ich will in den Himmel steigen und meinen Thron über die Sterne Gottes erhöhen, ich will mich setzen auf den Berg der Versammlung im fernsten Norden.14 Ich will auffahren über die hohen Wolken und gleich sein dem Allerhöchsten.« 15 Ja, hinunter zu den Toten fuhrst du, zur tiefsten Grube! 16 Wer dich sieht, wird auf dich schauen, wird dich ansehen und sagen: »Ist das der Mann, der die Welt zittern und die Königreiche beben machte, 17 der den Erdkreis zur Wüste machte und seine Städte zerstörte und seine Gefangenen nicht nach Hause entließ?«

            Das mag ein Wechsel sein. Zum Himmel emporsteigen wollen, aber in die Grube fahren. Es ist der Hochmut, der so tief abstürzt. Es ist das überhebliche Sein Wollen wie Gott, gleich sein dem Allerhöchsten, das die Fallhöhe so entsetzlich tief werden lässt. Und wieder meldet sich in den Worten dieses Spottliedes bittere Ironie. Was für eine lächerliche Gestalt gibt dieser Herrscher in Wahrheit in einem Größenwahn ab.

            Es fällt ja auf: Es wird kein Namen genannt. Zielt es auf Sanherib, der nach seinem Feldzug gegen Jerusalem ermordet wurde? Zielt das Lied auf Nebukadnezar, von dem im Danielbuch sein Wahnsinn berichtet wird? Zielt es auf Belzasar, der sich überhebt im Spott auf den Gott Israels? Es bleibt offen – jeder von ihnen könnte gezeichnet sein und doch wird zugleich deutlich der Rahmen der Geschichte gesprengt.

            Hier meldet sich eine Respektlosigkeit zu Wort, die gelernt hat, die angemaßte Größe der Mächtigen zu durchschauen – und sie auch lächerlich zu machen. Auch auf die Gefahr hin, dafür bitter büßen zu müssen.

Könige der Völker ruhen doch in Ehren, ein jeder in seiner Kammer; 19 du aber bist hingeworfen ohne Grab wie ein verachteter Zweig, bedeckt von Erschlagenen, die mit dem Schwert erstochen sind, wie eine zertretene Leiche. 20 Du wirst nicht wie jene begraben werden, die hinabfahren in eine steinerne Gruft; denn du hast dein Land verderbt und dein Volk erschlagen. Man wird des Geschlechtes der Bösen nicht mehr gedenken. 21 Richtet die Schlachtbank zu für seine Söhne um der Missetat ihres Vaters willen, dass sie nicht wieder hochkommen und die Welt erobern und den Erdkreis voll Trümmer machen.

            Man darf nicht um die Tatsache herum reden: Hier führt auch der Hass das Wort. Verständlich, wenn ich mir vor Augen stelle, wie entehrt Leute aus Israel, aus Juda, aus Jerusalem sich erfahren haben. Wie schrecklich es ist, sich über Jahrhunderte hin getreten, gedemütigt, als Volk ins Elend und in die Auflösung des Volkes geführt zu sehen. Dieser Tote, wer immer es ist, erfährt nicht einmal mehr die letzte Ehre. Er ist auch im Tod noch preisgegeben.

            Beispiele für solche Schändung der Toten gibt es in der Literatur, auch in den biblischen Schriften genug. Die alte Welt ist an dieser Stelle nicht sonderlich zartfühlend. Die Menschenwürde, die angeblich unantastbar ist, auch jenseits des Todes, ist kein Leitmotiv der Zeiten, in denen Jesaja und seine Schüler ihre Worte formen.     

 22 Und ich will über sie kommen, spricht der HERR Zebaoth, und von Babel ausrotten Name und Rest, Kind und Kindeskind, spricht der HERR. 23 Und ich will Babel machen zum Erbe für die Igel und zu einem Wassersumpf und will es mit dem Besen des Verderbens wegfegen, spricht der HERR Zebaoth.

               Damit die Vernichtung total ist: Keine Nachkommen. Keine Weitergabe des Lebens an Kind und Kindeskind. Kein Rest. Nichts. Selbst die Namen werden ins Vergessen sinken. So groß ist der Hass auf Babel, dass buchstäblich nichts von ihr übrig bleiben soll. Und Gott, der Herr, wird es tun. Ein Erbe für die Igel und ein Wassersumpf – mehr wird nicht bleiben. So will es Gott.

            Es ist Gott selbst, der den Größenwahn der Mächtigen zerbricht, scheitern lässt, abstürzen lässt. Gott, dieses Berggöttlein im Jerusalem, den sie in Babel nicht auf der Rechnung hatten. Gott, von dem sich die Führungsschicht im Jerusalem auch nichts mehr versprochen hat. Gott, dem die Mächtigen allenfalls noch Symbolwert beigemessen und zugestanden haben.

Zum Weiterdenken

            Ich halte inne und rufe mir ins Gedächtnis: Babylon ist heute nur noch Ausgrabungsstätte für Archäologen. Die vergangene Größe wird erforscht, aus dem Staub und Sand herausgegraben. Babylon ist kein Knotenpunkt der Macht mehr. Schon längt nicht mehr. Nur noch ein Name für Anmaßung. und die Erinnerung an gefallene Größe.

             Das ist Glaube, der herausfordert: Die Welt läuft nicht nur nach den Interessen der Mächte. Sie folgt nicht nur ihren eigenen Gesetzmöglichkeiten. Die prophetischen Schriften bezeugen ein Eingreifen Gottes, das die Machtverhältnisse auf den Kopf stellt. Nicht senkrecht von oben durch Engel-Legionen, aber durch eine Verschiebung der Machtverhältnisse, wie sie keiner im Blick hatte. Der Mensch denkt, Gott aber lenkt. Der Mensch dachte. Gott aber lachte.

            Die Geschichte erzählt von diesem Handeln Gottes bis in die jüngste Zeit hinein. So springt mich ein Gedanke an, der mir zu schaffen macht: Warum nur sind wir heute so verblendet, dass wir nicht glauben, dass es Gott sein könnte, der unsere so hochmütige westliche Denkweise, die alle Macht der Welt für sich beansprucht, in die Schranken weisen wird. Ist es wirklich völlig ausgeschlossen, dass unsere Metropolen – ob New York, Washington, London, Paris oder Berlin – nur noch Ausgrabungsstätten sein werden, Zeugnis für vergangene Macht und Größenwahn?  Es ist gerade einmal etwas mehr als siebzig Jahre her, das war Berlin nur noch ein Trümmerfeld, so wie wir es heute aus Mariupol, Cherson und aus den Städten Syriens kennen. Sind in Wahrheit heute wir „der Stecken des Treibers“, der zerbrochen werden wird? Ist es nicht unser westliches, vom atlantischen Bündnis geprägtes Denken und Tun, das längst gott-gleich sich anmaßt, über Leben und Tod, Anfang und Ende, Armut und Reichtum zu entscheiden, selbst bestimmt und als alleiniger Maßstab für alle Welt?    

Du starker Gott, Du bist die Grenze für alle, die keine Grenzen ihrer Macht kennen und anerkennen wollen. Du setzt dem Treiben der Mächtigen ein Ende. Hoffentlich nicht erst in ferner Zukunft.

Du heiliger Gott willst, dass wir nicht im Machtspiel mitspielen, das wir uns nicht den Regeln beugen, die das Elend zu vieler in Kauf nehmen.  Du willst uns befreien vor der Furcht, die sich beugt, weil sie Angst um sich selbst hat. Du willst uns tapfer, auch wenn wir den Lauf der Welt nicht ändern können.

Du barmherziger Gott willst uns tapfer, damit wir an unserem Platz ändern, was wir an den Verhältnissen ändern können. Anderen zugute. Und auch uns selbst. Du willst uns unseren Mut, unsere Tapferkeit, unseren langen Atem, damit sich etwas ändert, dort, wo wir leben.  Auch heute. Amen

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