Römer 11, 25 – 32
25 Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist. 26 Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht: »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob. 27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« 28 Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. 29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. 30 Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, 31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. 32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.
Kann Paulus nach Korinth schreiben, dass das Wort vom Kreuz den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit ist, so macht er hier mit dem Wort Geheimnis alle vermeintliche Klugheit der Christen aus den Völkern zunichte. Sie sind nicht der endgültige Ersatz Gottes für Israel, sondern nur die Vorhut Israels. Wenn sie in Fülle zum Heil gelangt sind, dann wird Gott auch an Israel neu handeln, es retten. Retten, weil ja doch der Retter da, vor Gott, ist und für alle, die Gott liebt eintritt.
„Ganz Israel“. Das ist eine Wendung, die aus dem Alten Testament stammt. Sie meint fast immer das Volk im Gegenüber zu Gott. In dieser Wendung sind die einzelnen Israeliten aufgehoben. Ganz Israel meint sie alle als Einzelne. Was Paulus hier anklingen lässt: Israel wird dann endlich werden, wozu es immer schon bestimmt ist, durch die Wahl Gottes: Sein Volk. Das ist gerettet werden, dass sie sein Volk werden.
Halten wir einen Augenblick inne: Was ist mit unseren Brüdern und Schwestern? Bewegt uns diese Frage überhaupt? Werden wir unruhig, wenn wir daran denken: Neben uns leben unzählige Menschen, die genau wie wir getauft sind, konfirmiert worden sind, wissen, wo Gottesdienst ist, die gesegnet worden sind und denen Gottes große Verheißungen gelten – und doch glauben sie nicht an Jesus Christus. Bewegt uns das? Stellen wir uns die Frage: Sind sie dann nicht trotz allem fern von Gott? Kennen wir den Schmerz und die Angst um die, die nicht glauben? Wenn Paulus gesagt hätte, wie man es heute sagt: Glaube ist Privatsache. Solange sie glücklich sind, ist doch alles o.k.- wir wären noch heute Wotangläubige, wären heute noch gefangen in den germanischen Götterkulten mit ihren Ängsten und Unheimlichkeiten.
Eingeschlossen in den Ungehorsam, den Unglauben: Das ist wie ein Käfig mit einer Tür. Aber diese Tür hat keinen Öffner von innen. Sie hat kein Schlüsselloch von innen. Wer in ihr sitzt, der kann nicht mehr heraus. In diesem Käfig sitzen wir alle ‑ Heiden und Juden. Denn wir alle sind blind für die Wirklichkeit Gottes. Wir alle haben unser Herz an Götzen gehängt ‑ ob sie nun Wotan oder Manitou, ob sie Fortschritt oder Reichtum, ob sie Glück oder Gesundheit heißen: da ist keiner, der Gott wirklich erkannt hätte. Da ist keiner der aus diesem Käfig durch eigene Kraft herausfinden könnte.
Aber ‑ das ist nicht alles: Gott lässt den Käfig nicht zu. Gott lässt uns nicht eingeschlossen in dem Unglauben. „auf dass er sich aller erbarme.“ Das ist Gottes letztes Wort. Der Unglaube wird überwunden, nicht durch unseren Glauben, nicht durch unseren Gehorsam, nicht durch unsere Einsicht: Allein durch Gottes Barmherzigkeit wird das Gefängnis des Unglaubens aufgeschlossen. Gott kommt und öffnet die Tür, die wir nicht öffnen können ‑ von außen. Er kommt zu uns Menschen, die wir ihn nicht kennen, damit wir ihn kennen lernen können. Gott erbarmt sich unser. Und dieses Erbarmen wird in Jesus Christus sichtbar unter uns. Er ist Gottes Erbarmen in Person. Er ist es, der kommt und wegräumt, was uns von Gott trennt, der Stein um Stein von der großen Mauer, die wir zwischen Gott und uns aufgehäuft haben durch unsere Schuld wegträgt auf seinem Rücken.
Ich werde es wohl nicht mehr verstehen, wie wir, christliche Theologie, die Sätze des Paulus über die schließliche Rettung ganz Israels durch Jahrhunderte hin überlesen konnten. Hatten wir Angst davor? Passte es irgendwie nicht in das Denken, dass die Juden, die hier in der Zeit den glauben verweigern, am Ende doch on Gott geborgen sein sollen? Wenn alle Juden, die den Herrn Jesus als Messias Israels ablehnen, am Ende doch gerettet werden – was ist dann mit den anderen? Mit denen, die ihn nicht kennen. Mit denen, die gleichgültig abwinken? Mit denen, die ihm nicht nachfolgen? Gibt es am Ende auch für sie gar keine ewige Verlorenheit? Und wenn ja – für wen wäre das schlimm?
Nachwort: Ich habe zu diesem Satz Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen eine sehr persönliche Beziehung, weil es Konfirmationsspruch und Beerdigungswort eines „meiner“ Jugendlichen war – und ich weiß, wie es mich herausgefordert hat, an diesem Satz festzuhalten, gegen allen Schmerz. Wann immer ich ihn lese, sehe ich den Jungen vor mir, die Schmerzen der Eltern und der drei Brüder. So unter Schmerzen durchbuchstabiert ist es ein Hauptsatz meines Glaubens geworden.Bis dahin aber, Du unser Gott, hilf uns, dass wir festbleiben in der Hoffnung für die Schwestern und Brüder. Lasst uns festhalten an ihnen in der Liebe, die keinen abschreibt, weil wir wissen: Dein, Gottes Erbarmen ist größer als unser Unglaube und Du bleibst Dir durch Zeit und Ewigkeit treu: Du lässt Deine Gaben und Berufungen nicht zunichte werden – weder die an Israel noch die an uns. Darüber können wir Dir nie genug danken und Dich nie genug preisen. Amen