Jesaja 11, 1 – 10
1 Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.
Gar nicht oft genug kann ich diese Worte hören. Wie oft habe ich sie gelesen am Heiligen Abend, als Christ, als Prophetie auf Jesus hin. Zuerst allerdings sind sie anderen gesagt. Dem Volk in Juda, in Jerusalem. Dem Volk, das in seiner Existenz bedroht ist. Dem Volk, das bangt darum, ob es denn einen neuen Spross aus dem Stamm Isais geben wird. Nicht einen wie die anderen, die fruchtlos waren, weil sie so voller Furcht waren, die ihre eigenen Wege gegangen sind, weil sie den Wegen Gottes nicht getraut haben.
Es wäre ja kein Wunder, wenn Gott die Geduld mit dem Haus Davids verlöre, wenn er das Gericht ohne Wenn und Aber vollziehen würde. Von den ersten Zeilen des Jesaja-Buches an ist es das Leid Gottes und das Leid seines Propheten, dass er vergeblich Frucht sucht, beim Haus Davids und bei Juda und Jerusalem. „Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.“ (5,7) Daran hat sich nichts geändert, allen Umkehrrufen zum Trotz.
Und doch: Gott gibt nicht auf. Er hält fest an seinen Verheißungen. Er lässt sie nicht einfach dahin fallen. Er hält fest an der konkreten Gestalt seiner Verheißung. Kein Neuansatz mit irgendeiner unbescholtenen, vornehmen Familie, sondern ein Reis aus dem Stamm Isai. Es ist die Treue zu den Vätern, die Gott bewahrt, selbst wenn die Nachfahren die guten und gesegneten Wege der Väter verlassen haben.
Das ist ja auch für uns Christen die große Hoffnung. Wir sind nicht wirklich besser als Juda und Jerusalem, als dieses Volk, das so oft halbherzig ist in seinem Glauben, reich an Worten, aber arm an Frucht, Gottesfürchtig im Gottesdienst, aber voller Menschenfurcht im Alltag des Lebens.
2 Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. 3 Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN.
Der, der jetzt angesagt wird aus der Wurzel Isais, der wird anders sein. Einer, der sich ganz in Gott birgt. Einer, der ganz von ihm geleitet wird. Einer, der eins ist mit Gott, weil sein Geist eins ist mit dem Geist Gottes. Was hier über den Spross und sein Wesen gesagt wird, liest sich wie die Beschreibung eines Hochbegabten. Aber er ist nur deshalb hoch begabt, weil Gott gibt, was er braucht, weil Gott reichlich und mit vollen Händen gibt, was zu seinem „Amt“ nötig ist. Urteilsvermögen, klare Einsichten, innere Stärke, Distanz und Abstand, die andere Sichtweisen ermöglichen. Das ist das Bild eines weisen Menschen, der in der Furcht des HERRN seinen Haltepunkt gefunden hat. Kein Wunder, dass es im Denken Israels zur Beschreibung des Messias geworden ist – und im Christentum als die Ankündigung des Christus weiter gewirkt hat.
Wieder sind es Worte, die auf eine tiefe innere Verbindung des Propheten-Wortes zur Weisheit Israels hindeuten. Auch deshalb, weil es eine innere Verbindung zu Salomo gibt. Der bittet: „So gib mir nun Weisheit und Erkenntnis, dass ich vor diesem Volk aus- und eingehe; denn wer kann dies dein großes Volk richten? Da sprach Gott zu Salomo: Weil du dies im Sinn hast und nicht gebeten um Reichtum noch um Gut noch um Ehre noch um deiner Feinde Tod noch um langes Leben, sondern hast um Weisheit und Erkenntnis gebeten, mein Volk zu richten, über das ich dich zum König gemacht habe, so sei dir Weisheit und Erkenntnis gegeben.“ (2. Chronik 1, 10 – 12)
Viel später wird Jesus, in dem die Christenheit diese Worte in einer letzten Tiefe erfüllt sieht, von sich sagen: „Hier ist mehr als Salomo.“ (Matthäus 12,42)
Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, 4 sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. 5 Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.
Das ist das zentrale Problem, nicht nur des Israel damals, sondern bis heute. Recht wird nach dem Augenschein gesprochen. Recht dient oft genug dem Unrecht und so mancher Staat gebärdet sich als Rechts-Staat und fördert doch Unrecht, das im Gang ist, die Ungerechtigkeit. Und ist so ein Unrechts-Staat, weil er seine vornehmste Pflicht versäumt. Die Fürsorge für die Schwächsten.
Wer die schwächsten Glieder sind – darüber gibt es im alten Israel keinen Zweifel: „Denn der HERR, euer Gott, ist der Gott aller Götter und der Herr über alle Herren, der große Gott, der Mächtige und der Schreckliche, der die Person nicht ansieht und kein Geschenk nimmt und schafft Recht den Waisen und Witwen und hat die Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gibt. Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.“ (5. Mose 10, 17-19) Arme, Elende, Witwen, Waisen. Sie finden Zuflucht bei ihm.
Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein – das ist eine angriffige Botschaft für die, die nur das eigene Recht kennen. Ohne Ansehen der Person wird er richten. Auch nicht beeinflusst durch irgendwelche Ratgeber. Was von dem Kommenden erhofft wird, ersehnt wird, ist eine Mischung aus Erbarmen und Macht, aus menschengerechter und beziehungsgerechter Gerechtigkeit, die den Armen und Elenden zugutekommt und aus Macht, die den Mächtigen Grenzen setzt. Dieser Kommende ist nicht ohnmächtig. Aber er gebraucht seine Macht nicht im Eigeninteresse, sondern nur zur Herstellung von Recht und Gerechtigkeit.
Das ist allerdings die Spitze dieser Worte: Jesaja kündigt nicht einen gerechten Staat an, sondern einen König der Gerechtigkeit. Dass es zur Gerechtigkeit kommt, ist nicht die Folge der Veränderung von ein paar Strukturen, sondern es ist die Folge, dass da ein anderer die Macht hat, einer, der sich nicht für sich selbst gebraucht, sondern in seiner Macht der Diener aller (Markus 9,35) ist.
6 Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. 7 Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. 8 Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter.
Was folgt, liegt auf der Hand: Wo „Gerechtigkeit und Friede sich küssen“ Psalm 85,11), wo dieser König herrscht, da brechen paradiesische Zustände aus. Das geht bis in die Versöhnung der „natürlichen Feinde“ in der Schöpfung. „Nach priesterlichen Glauben hatte im Anfang Friede zwischen Menschen und Tieren geherrscht.“ (O. Kaiser, aaO. S. 128) Dieser Friede wird wieder hergestellt.
Es sind Bilder von suggestiver Kraft, denen man sich kaum entziehen kann. Keine Furcht mehr vor den Löwen, vor der Schlange. Keine Gefahr mehr für Lämmer und Rinder auf der Weide. Kein nächtliches Brüllen mehr, vor dem man sich verstecken muss. Selbst der schutzlose, weil ahnungslose Säugling ist nirgends mehr gefährdet.
Vielleicht muss man, darf ich auch das mithören: Es ist nicht mehr gefährlich, der Schlange zu begegnen. Der Schlange, die ja doch im Anfang ihr falsches Spiel gespielt hat und damit diesen Riss herbeigeführt hat, der seitdem in der Schöpfung Angst und Feindschaft sät.
9 Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.
Auch deshalb scheint dieser Gedanke schlüssig, weil es jetzt um die Sünde geht. Im Reich dieses Königs hat die Sünde ihre Macht verloren. Sie hat verspielt. Sie kann ihr Zerrbild nicht mehr in die Herzen von Menschen senken, dieses Zerrbild, das Angst vor Gott macht, das glauben lässt, dass es Gott gar nicht gut mit uns meint, dass er uns nur domestizieren will. Dieses Zerrbild, das glaubt, einen großen Gott könne es nur so geben, dass der Mensch klein gemacht wird – und schlecht.
Da wo das Land voll Erkenntnis des HERRN ist, da ist für diese Bilder kein Platz mehr. Denn da sieht es ja jeder und jede, Mann und Frau, Groß und Klein, arm und reich, wie Gott ist, ein „Backofen voller Liebe“ (M. Luther), ein Vater mit weit ausgebreiteten Armen, der seinem verlorenen Sohn und der verlorenen Tochter entgegen läuft (Lukas 15, 11 – 32), ein Christus, der in seiner Liebe bis zum Äußersten (Johannes 13,1) geht, bis zur Selbsthingabe in den Tod. Wo das Land so voll Erkenntnis des HERRN ist, heilen die kranken Bilder von Gott aus, wird der Glaube gesund.
10 Und es wird geschehen zu der Zeit, dass das Reis aus der Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker. Nach ihm werden die Heiden fragen, und die Stätte, da er wohnt, wird herrlich sein.
Dann wird die Völkerwallfahrt zum Zion beginnen. Es ist die Strahlkraft, die von dem Reis aus der Wurzel Isais ausgeht, die die Völker fragend macht, in ihnen Sehnsucht erweckt, die sie suchen lässt nach einem Zugang. Von ihm her fällt helles Licht auf die Stätte, da er wohnt. Das wird, ich knüpfe diese Verbindungen über die Zeiten hinweg, im letzten Buch der Bibel in dieser Weise und mit diesen Worten aufgegriffen: „Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, dass sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm.“ (Offenbarung 21,23)
Zum Weiterdenken
Ein Reich der Gerechtigkeit – weil der König gerecht ist. Jesaja setzt nicht auf gerechte Strukturen, sondern auf den einen Gerechten. Seine Person macht den Unterschied. Das, was durch ihn hindurch tönt. Bei ihm finden alle ihr Recht, weil sie alle sein Erbarmen finden. Es ist in der Schrift wie ein roter Faden: Gerechtigkeit ist eine Gabe, die von dem Gerechten kommt – von Gott. Von seinem Gesandten – dem Reis aus dem Stamm Isai. Die dann aber auch das Handeln derer bestimmen soll, die von diesem Gott und seinen Gesandten berührt und berufen worden sind.
Es ist eine Herausforderung: Diese Passagen lesen Juden und sagen: Er wird kommen. Wir warten immer noch auf das Reis aus der Wurzel Isai. Wir Christen lesen sie und sagen: Wir finden in ihnen den beschrieben, der schon gekommen ist und der wieder kommen wird. Das Warten auf ihn könnte uns – Juden und Christen- mehr verbinden als es das bis heute tut.
Das gilt – über die alten Worte hinaus – auch in unsere Zeit hinein. Er, Christus, ist die Zuflucht für alle und will, dass wir Christen in seiner Spur Zuflucht öffnen. Er will, dass wir sein Erbarmen nicht nur besingen, sondern leben – allen zugewandt, die nichts mehr, noch nichts oder noch nie etwas leisten und geleistet haben. Allen, die nicht mehr von allein auf die Beine kommen. Allen, die auf Hilfe angewiesen sind, damit ihr Leben nicht zerbricht.
Ich höre: Wir können nicht allen helfen. Wir können nicht die ganze Welt retten. Müssen wir auch nicht. Was wir können, ist für die da sein, die bei uns sind – Alte, Kinder, Gescheiterte, Verzweifelte, Resignierte, Mutlose – wie auch immer es dazu gekommen ist. Es ist nicht vergeblich, sich einem von ihnen zuzuwenden. Wer einem hilft, macht die Welt ein wenig menschlicher.
Heiliger barmherziger Gott, hilf uns weiter zu warten – auf Deinen Friedenskönig und sein Reich. Auf ihn, der die Welt zurechtbringen wird, so, dass keine uns keiner verloren geht, hoffnungslos zurückbleibt, Opfer des Fortschritts wird. Hilf uns, dass wir das Warten durchhalten – in guter Hoffnung.
Darum bitte ich dich, dass wir in unserem Warten nicht mutlos und untätig werden. Dass wir mit unserer kleinen Kraft tun, was wir tun können – aufrichten, ermutigen, helfen, unterstützen. Menschenwürde wahren – unsere und die der anderen. Lass uns nicht zu lange warten. Und gib, dass wir die Zeit unseres Wartens nützen, so wie es Dir entspricht. Amen