Das letzte Wort: Gnade

Offenbarung 22, 16 – 21

16 Ich, Jesus, habe meinen Engel gesandt, euch dies zu bezeugen für die Gemeinden. Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der helle Morgenstern.

            Den Schluss der Offenbarung bilden nicht mehr Bilder, sondern Worte. Wir hören nur noch Stimmen. Rufe. Zuerst die Erinnerung: Alles, was Johannes gesehen hat, ist für die Gemeinden bestimmt. Ephesus und Smyrna, Pergamon und Thyatira, Sardes und Philadelphia und Laodizea. Und dann stellt ER sich noch einmal vor. Denn er ist ja der eigentliche Autor dieses Briefes an die Gemeinden. Wieder steht da die Formel, in der Gott selbst sich vorstellt am brennenden Dornbusch, in der Jesus sich zu erkennen gibt auf seinen Wegen durch die Zeit:  Ich bin.

            Ich höre mit: Die Wurzel Jesse. „Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.“ (Jesaja 11, 1) Ich kann auch das mit hören: „Nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Römer 11,18) Wir, Juden und Christen werden in gleicher Weise getragen von ihm, der die Wurzel ist. Werden beschienen von ihm, der der helle Morgenstern ist. Auch hier wieder schwingt uralte Verheißung mit: „Es sagt Bileam, der Sohn Beors, es sagt der Mann, dem die Augen geöffnet sind, es sagt der Hörer göttlicher Rede und der die Erkenntnis des Höchsten hat, der die Offenbarung des Allmächtigen sieht und dem die Augen geöffnet werden, wenn er niederkniet: Ich sehe ihn, aber nicht jetzt; ich schaue ihn, aber nicht von nahem. Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus Israel aufkommen.“ (4. Mose 24, 15 – 17)

            An diese Worte, an dieses Versprechen erinnern wir uns und nehmen es auf als Hoffnung für unsere Zeit, wenn wir singen:

            Der Morgenstern ist aufgedrungen,
            er leucht‘ daher zu dieser Stunde
            hoch über Berg und tiefe Tal,
            vor Freud singt uns der lieben Engel Schar.                                                                                        

                                           Unbekannter Autor, 15. Jahrhundert EG 69

            Es ist eine Notiz meiner Biographie. Über mehr als zehn Jahre hin war es das Schlusslied, jeden Freitagabend, wenn mein Vater in der Dorfkirche in Willmenrod auf dem Westerwald für das sonntägliche Orgelspiel übte. Er hört immer mit dem gleichen Lied auf, das die alten Verheißungen an Israel aufnahm und sie umsprach zu neuen Verheißungen, zu singen auch in dunklen Zeiten. Zu Verheißungen voll Staunen und Anbetung.

„Wie schön leuchtet der Morgenstern voll Gnad und Wahrheit von dem Herrn,
die süße Wurzel Jesse.[
Du Sohn Davids aus Jakobs Stamm, mein König und mein Bräutigam,
hast mir mein Herz besessen;
lieblich, freundlich, schön und herrlich, groß und ehrlich,
reich an Gaben, hoch und sehr prächtig
[8] erhaben.“           P. Nicolai 1599, EG 70

            Geschrieben sind diese Worte in der Zeit, in der in Unna, seinem Pfarrort, die Pest viele Menschen dahinraffte. Anbetung aus der Bedrängnis. Ruf nach dem Heiland.

 17 Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es hört, der spreche: Komm!

            Auf diese Ankündigungen gibt es nur eine Antwort: Komm! Es ist die Antwort der Sehnsucht der Liebe, die sonst nichts mehr zu sagen braucht. Und – meisterhaft – der Kreis derer, die so sprechen, öffnet sich, hin zu allen, die es hören, hin zu uns, die wir es heute lesen und hören. 

            Der Geist ist voller Sehnsucht – das ist die Liebe innerhalb der Trinität. Gott selbst, so lese ich hier, ist sehnsüchtig in der Liebe – der Vater nach dem Sohn, der Sohn nach dem Vater, der Geist nach dem Sohn. Das innersten Wesen Gottes, wenn man sich überhaupt wagen darf, so etwas zu sagen, als könnte unsereiner wissen, was das innerste Wesen Gottes ist, ist Liebe.

            Und die Gemeinde, die Braut, ist ihrem Wesen nach Sehnsucht. Ausgestreckt zu Jesus hin, hoffend auf seine Gegenwart, wartend auf sein Kommen.

            Wie soll ich dich empfangen / und wie begegn ich dir,
            o aller Welt Verlangen, / o meiner Seelen Zier?
            O Jesu, Jesu, setze / mir selbst die Fackel bei,
            damit, was dich ergötze, / mir kund und wissend sei.

            Ihr dürft euch nicht bemühen / noch sorgen Tag und Nacht,
            wie ihr ihn wollet ziehen / mit eures Armes Macht.
            Er kommt, er kommt mit Willen, / ist voller Lieb und Lust,
            all Angst und Not zu stillen, / die ihm an euch bewußt.        P. Gerhardt 1653, EG 11

            Es stimmt schon: „Ursprung und ganzer Geschichtsablauf, Anfang und Weg, Schöpfung und Erfüllung; alles ist in Jesus Christus zusammen gefasst.“ (H. Lilje aaO. S. 249)

Und wen dürstet, der komme; und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst.

            Auch das Zitat, Aufnahme eines Wortes aus den Propheten Israels. „Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!“ (Jesaja 55,1) Und auch Zitat aus der großen Vision zuvor, dem Bild vom himmlischen Jerusalem. „Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.“ (21,6) Es ist die Form, die der Heilandsruf aus dem Matthäus-Evangelium – „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ (Matthäus 11,28) – in der Offenbarung annimmt. Auch der wiederkommende Herr ist nicht nur Richter. Er ist zugleich Heiland.

18 Ich bezeuge allen, die da hören die Worte der Weissagung in diesem Buch: Wenn jemand etwas hinzufügt, so wird Gott ihm die Plagen zufügen, die in diesem Buch geschrieben stehen. 19 Und wenn jemand etwas wegnimmt von den Worten des Buchs dieser Weissagung, so wird Gott ihm seinen Anteil wegnehmen am Baum des Lebens und an der heiligen Stadt, von denen in diesem Buch geschrieben steht.

            Das ist steil, atemberaubend.  Aber nicht einmalig. „Ihr sollt nichts dazutun zu dem, was ich euch gebiete, und sollt auch nichts davon tun, auf dass ihr bewahrt die Gebote des HERRN, eures Gottes, die ich euch gebiete.“ (5. Mose 4,2) Oder: „Predige denen, die aus allen Städten Judas hereinkommen, um anzubeten im Hause des HERRN, alle Worte, die ich dir befohlen habe, ihnen zu sagen, und tu nichts davon weg.“ (Jeremia 26,2) Allerdings einmalig ist, dass die Treue zu diesem Wort sozusagen heilsnotwendig wird, wenn man die Ausschlussformel ernst nimmt: Wenn jemand etwas wegnimmt von den Worten des Buchs dieser Weissagung, so wird Gott ihm seinen Anteil wegnehmen am Baum des Lebens und an der heiligen Stadt.

            Diese Drohung steht innerhalb des biblischen Kanons ziemlich isoliert. Und sie hat wohl ein bisschen einem Verständnis Vorschub geleistet, dass den wortwörtlichen Glauben an alles, was in der Schrift seht, für heilsnotwendig hält. Wahr bleibt: Das Wort der Schrift will uns leiten. Die Worte der Offenbarung wollen uns ermutigen und den Rücken stärken. Ich tue mir keinen Gefallen, wenn ich an diesen Worten achtlos vorbei gehe. Ich will sie achten, auch dann, wenn ich sie nicht alle verstehe. 

 20 Es spricht, der dies bezeugt: Ja, ich komme bald. – Amen, ja, komm, Herr Jesus!

            Das ist das letzte Wort – ein Dialog. Noch einmal hat Jesus, der Christus das Wort. Ja, ich komme bald. Man könnte auch so übersetzen: „Schnell. Geschwind. Plötzlich.“ Er wird uns nicht über Gebühr warten lassen. Er verzieht nicht.

            Und die Antwort ist wiederum der Ruf der Sehnsucht. Diesmal wohl des Sehers selbst, der hier für sich das Wort nimmt. Amen, ja, komm, Herr Jesus! Μαρανα θα (Marana tha), heißt das auf Aramäisch. So mögen es Christen gerufen haben, deren erste Sprache nicht Griechisch war. Aber so oder so: Es ist die Sehnsucht, die nach dem Kommen Christi ruft. Emotion. Hoffnung.  Ruf aus der Bedrängnis: Mach hin.   

            Es ist gut, dass diese Worte am Ende des Briefes Offenbarung stehen, auch am Ende der ganzen Heiligen Schrift, weil sie die Sehnsucht nach dem Kommenden gewissermaßen adeln. Sie lehren mich, dass die Sehnsucht der Welt und die Sehnsucht meines Lebens nach seinem Kommen aus der Schrift schöpft. Dass sie nicht nur Produkt der Unzufriedenheit mit den Zeitumständen ist. Es ist ja wahr: Ja komm! ruft keiner, der alles hat, sich alles leisten kann, dessen Leben auf der Überholspur unterwegs ist. Ja komm! so rufen die mit leeren Händen und verwundeten Herzen.

            Die Schrift will uns kein Lehr-System nahebringen, das uns die Welt erklären und verstehen lässt. Das wird nebenbei ein Abfall-Produkt sein können – mehr Verständnis für die Welt, wie sie ist. Sie will aber vor allem die Sehnsucht in uns „befeuern“, sie im Brennen halten, damit wir unterwegs bleiben – fragend, zweifelnd, klagend, suchend, staunend und betend. Damit wir uns nicht irgendwann fromm zur Ruhe setzen – im Glauben, wir haben alles und wissen alles.  Darum der Ruf der Sehnsucht: Ja, komm, Herr Jesus.

„Komm, der alles Fragen stillt, du, der alle Wunden heilet

du, der immer, ewig quillt, dessen Kraft die Wolken teilet

du, der in den Nächten grüßet aller Herzen tief Verlangen,

der die Leiden still versüßet, lösest meiner Seele Bangen.

 Komm und fülle mich mit Glanz deiner ewgen Gnadenweiten, 

nimm mein Herz dir völlig, ganz, fülls mit deinen Seligkeiten

Nur ein Tropfen deiner Gnad´ wird zum Strom, zum Meer, zur Weite.

Selig, selig, wer dich hat. Jesu, Jesu, mein Freude.“  

   H. Hümmer , Lieder und Kanons, Selbitz 1980, S. 58

 21 Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen!

            Das ist das letzte Wort der Schrift. Am Ende die Gnade. Des Heilandes, des Retters. Ein wunderbares Wort auf den Weg – für alle, die mit diesem Wort der Offenbarung und der ganzen Heiligen Schrift umgehen. Segenswort. Im Segen gehen wir ja über das hinaus, was unsere Worte vermögen, was unser Tun vermag – und vertrauen uns der größeren Kraft Gottes an. Seine Gnade wird tun, was wir nicht zu Stande bringen. Zurecht bringen, was uns entgleitet. Ans Ziel bringen, was uns zu schwer ist.  

Was für ein wunderbares Wort: Gnade uns allen. Gnade für die Welt.

Jesus, am Ende wird nur noch Deine Gnade sein. Am Ende wird nur noch Deine Name über allen Namen sein und in ihm unsere Bergung. Am Ende nur noch der Vater und du und wir in Dir geborgen. Darauf traue ich, naiv, still wie ein Kind, gezeichnet von so vielen Schmerzen. Dir warten wir entgegen, Christinnen und Christen, angefochten vom Schmerz der Welt, mit der ganzen Welt, die sich nach Erlösung sehnt.

Lass uns nicht zu lange warten. Komm, Du Heiland der Bedrängten. Du Retter der Schuldigen. Du Liebe über alles Lieben. Auf Dich warten wir. Amen 

1 Kommentar zu „Das letzte Wort: Gnade“

  1. Danke für deine ausführlichen Erklärungen der jeweiligen Bibeltexte.
    Ich bewundere deine reichhaltige Kenntnis von Liedern und Bibelstellen, die jeweils zur Ergänzung aufgeführt werden.
    Die neue Schrift ist gut lesbar.
    Herzliche Grüße
    Linde

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