Ausgebrochen und aufgepropft

Römer 11, 17 – 24

17 Wenn nun einige von den Zweigen ausgebrochen wurden, du aber, der du ein wilder Ölzweig bist, in den Ölbaum eingepfropft wurdest und Anteil bekommen hast an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums, 18 so rühme dich nicht gegenüber den Zweigen. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich. 19 Nun wirst du sagen: Die Zweige sind ausgebrochen worden, damit ich eingepfropft werde. 20 Ganz recht! Sie wurden ausgebrochen um ihres Unglaubens willen; du aber stehst fest durch den Glauben. Sei nicht überheblich, sondern fürchte dich! 21 Hat Gott die natürlichen Zweige nicht verschont, wird er auch dich nicht verschonen. 22 Darum sieh die Güte und die Strenge Gottes: die Strenge gegenüber denen, die gefallen sind, die Güte Gottes aber dir gegenüber, sofern du in der Güte bleibst; sonst wirst auch du abgehauen werden. 23 Jene aber, sofern sie nicht im Unglauben bleiben, werden eingepfropft werden; denn Gott vermag sie wieder einzupfropfen. 24 Denn wenn du aus dem Ölbaum, der von Natur aus wild war, abgehauen und wider die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft worden bist, um wie viel mehr werden die natürlichen Zweige wieder eingepfropft werden in ihren eigenen Ölbaum.

Es ist ein Schlüsselsatz für das Verstehen des Paulus: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich. Gesprochen zu Menschen aus den Völkern, die in der Gefahr standen, sich diesen glaubensfernen Juden gegenüber bevorzugt zu sehen. Mehr noch: an ihre Stelle gesetzt zu sehen.

Es ist allerdings auch ein Satz, der über weit über diese Situation hinaus wahr ist. Es ist die Gefahr einer jeden neuen Generation, dass sie glaubt, es besser zu wissen und besser zu machen als die Generationen vor ihr. Die „letzte Generation“ zu sein, die allein das Zeug hat, das Ruder herumzureißen. Es ist eine Form von Vergesslichkeit, die sich an allen Ecken zeigt: Vergesslichkeit dafür, dass unsere Gegenwart immer auf der Vergangenheit beruht. Wir stehen mit allem, was wir haben, wie Zwerge auf dem Rücken früherer Riesen. Unser Weitblick, unser Wohlstand beruht auf dem Können, dem Wissen, der Arbeit und dem Fleiß früherer Generationen. Es ist ein Teil des politischen „Spiels“, die eigene Arbeit und Zeit immer als die Korrektur früherer Irrtümer und Versäumnisse zu inszenieren. Besser wird es dadurch aber nicht. Die Vergesslichkeit gegenüber der eigenen Angewiesenheit auf die Wurzeln macht orientierungslos.

Im Fall der ersten Christenheit ist die Gefahr, dass vergessen wird, dass der Glaube keinen anderen Gott weiß und kennt und sucht als den, der Israel erwählt und berufen hat, der in Israel seinen Sohn geschenkt hat, der in Jerusalem das Kreuz als Zeichen seiner Vergebung aufgerichtet hat werden lassen. Das sie vergessen, dass der Glaube an Jesus immer ein Dazukommen ist zu dem Gott der Väter, der Jesus als sein Heilszeichen in die Welt gesandt hat. Der Glaube, den Paulus weiterträgt, ist kein Glaube an einen neuen Gott, es ist der Glaube, in dem Israels Weg an sein Ziel in der Zeit kommt und in dem der Weg in die Ewigkeit eröffnet wird – für alle, die sich rufen lassen       

Weil er in Jesus das Herz Gottes geschaut hat und dort nur eines fand: Barmherzigkeit, deshalb hat Paulus Hoffnung, Hoffnung für sein Volk. Deshalb sagt Paulus: Es kommt der Tag, da wird Israel ein Licht aufgehen. Es kommt der Tag, da wird das ganze Israel gerettet werden, da werden sie ihrem Retter, dem Messias, dem Christus Jesus gegenüber stehen – nicht mehr in der Feindschaft, sondern im Glauben, nicht mehr im Hass, sondern besiegt von seiner Liebe. Dieser Tag ist das Ziel der Geschichte Gottes. Mit Heiden und Juden, mit Schwarzen und Weißen, mit Gelben und Braunen, mit Gerechten und Ungerechten, Frommen und Gottlosen wird Gott dann zusammen sein – mit uns allen. Darauf läuft alles zu. Das wird dann die Erlösung sein – Erlösung, in der der Unglaube überwunden ist durch Gottes Erbarmen, in der die Sünde weggetragen ist durch den geliebten Sohn.

Je länger ich mich intensiv mit diesen Worten des Paulus beschäftige, umso weniger verstehe ich, wie es jemals dazu kommen konnte, dass sich die Christenheit in ihrem Selbstverständnis an die Stelle Israel gesetzt gefühlt hat. Dass es so etwas gab wie die Lehre von der Verwerfung Israels, von seiner Enterbung zugunsten der Christenheit. Es gibt für die Christenheit die Aufgabe, an dieser Stelle die Geschichte der Kirche zu revidieren, weil sie schreckliche Folgen gezeitigt hat, bis hin zum Holocaust.  An dieser Stelle ist schlicht Buße angesagt, die weitergeht als alle wohlfeilen theologischen Erklärungen der 80er und 90er Jahre.

Gib Du, unser Gott, dass unsere Hoffnung nicht zu klein ist, unsere Erwartung nicht zu bescheiden. Gib Du, dass wir nicht nur auf die Lösung der Probleme hoffen, die wir uns als Menschheit in unserem Eigensinn bereiten. Gib du uns die große Hoffnung auf Deine Ewigkeit, nicht nur für uns, sondern für alle. Nicht nur für die, die wir mögen, sondern auch für die, mit denen wir uns schwer tun. Auch für die, die wir uns auf den Mond wünschen, weit weg von allen Möglichkeiten, uns das Leben schwer zu machen. Gib du uns die große Hoffnung auf Deine Versöhnung am Ende der Zeit, die den Riss heilt, der die Welt durchtrennt und uns von Dir fernhält. Amen    

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