Micha 6, 1 – 16
1 Hört doch, was der HERR sagt: »Mach dich auf, führe einen Rechtsstreit mit den Bergen, auf dass die Hügel deine Stimme hören!« 2 Hört, ihr Berge, den Rechtsstreit des HERRN, ihr starken Grundfesten der Erde; denn der HERR will mit seinem Volk rechten und mit Israel ins Gericht gehen!
Das ist die Aufforderung zu einem Rechtsstreit. Zu eine ordentlichen Verfahren vor Gericht. Mit Zeugen, mit Klagen und Gegenreden. Diese Vorstellung, dass Gott zu einem regelrechten Gerichtsverfahren ruft, ist nicht so selten, vor allem bei den Propheten nicht. Jesaja kennt das, Hosea auch und ebenso der spätere Hesekiel. Es ist prophetische Überzeugung: Gott stellt sein Volk in solchen Verfahren, aber zugleich stellt er auch sich und entzieht sich dem Verfahren nicht. „Der Prophet ist aufgerufen, im Namen Jahwes einen Rechtsstreit gegen das Volk zu führen. Berge und Hügel werden als zeugen herbeizitiert, so dass die Auseinandersetzung in der größtmöglichen Öffentlichkeit stattfinden kann.“(D. Kinet, aaO. S. 145)
Es mag für heutige Leser*innen ungewohnt sein. Aber Micha – und nicht nur er unter den Propheten – glaubt an einen streitbaren Gott. Gott ist nicht soft, zieht bei Widerstand nicht erschrocken zurück, sucht nicht den faulen Frieden, weil er Streit fürchtet. Mag sein: wer streitet, macht sich unbeliebt. Er gilt als rechthaberisch, weil er sein Recht behauptet. Man sammelt keine Sympathien, wenn man andere vor Gericht zerrt. Gott, so scheint es, hat keine Angst vor dem Entzug von Zustimmung. Ihm geht es um die Wahrheit. Um Klarheit in der Beziehung zu seinem Volk.
3 »Was habe ich dir getan, mein Volk, und womit habe ich dich beschwert? Das sage mir! 4 Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst und vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam.
Wenn das Volk Grund zur Klage hat – jetzt ist dafür Raum und Zeit. Hat Gott nur Ansprüche gemacht? Nur den HERRN gegeben – ohne jede Gegenleistung oder Vorleistung? „Micha spielt mit zwei im Hebräischen gleichlautenden Wörtern, nämlich „ermüden“ (hæl᾽etika)und „herausführen“ (hæ‛ælitika)Frei übersetzt lautet die Frage ungefähr so: „Habe ich dich etwa fallen lassen? Habe ich dich nicht herausgeführt?“(D. Schibler, aaO. S. 98)
Es ist ja der Verdacht bis heute: Gott macht Ansprüche, aber es gibt keinen Grund dafür. Jeder Konfirmand hat es gelernt: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“(M. Luther, Kleiner Katechismus, EG 806,1) Ausgefallen ist, woran Micha erinnert: „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.“(2. Mose 20,2) Das ist Gottes Argument: Du beschwerst dich, du Volk. Aber ich habe dich aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst. Ich habe dir Freiheit gegeben. Gott hat Israel nicht allein gelassen – Mose, Aaron und Mirjam sind seine Gesandten gewesen, Führer auf dem Weg. Hilfen Gottes.
5 Mein Volk, denke doch daran, was Balak, der König von Moab, vorhatte und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete; wie du hinüberzogst von Schittim bis nach Gilgal, damit du erkennst, wie der HERR dir alles Gute getan hat.«
Es ist der Versuch Gottes, „sein Volk zur Vernunft zu bringen.“(D. Schieler, aaO. S. 97) Er appelliert an ihre Erinnerung, er will es ihnen vor Augen halten, dass er sie bewahrt hat., Segen statt Fluch, Leben statt Untergang. Er ist es doch, der sie von der letzten Station in der Wüste, Schittim hinübergeführt nach Gilgal, dem ersten Lager im Westjordanland. Das alles führt Gott nicht an, um sie anzuklagen, sondern um sie zurechtzubringen: damit du erkennst, wie der HERR dir alles Gute getan hat. Erinnerung hat als Ziel die Dankbarkeit. Es wäre ein seltsamer Umgang mit der Geschichte, würde man nur auf die Fehlleistungen schauen, würde man nur auf die Noterfahrungen schauen und nicht sehen wolle, die Augen verschließen:
„In wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.“ J. Neander 1680, EG 316 „Mehr als ein Prozess“ weiterlesen