Hoheslied 7,11 – 8,14
11 Meinem Freund gehöre ich und nach mir steht sein Verlangen. 12 Komm, mein Freund, lass uns aufs Feld hinausgehen und unter Zyperblumen die Nacht verbringen, 13 dass wir früh aufbrechen zu den Weinbergen und sehen, ob der Weinstock sprosst und seine Blüten aufgehen, ob die Granatbäume blühen. Da will ich dir meine Liebe schenken. 14 Die Liebesäpfel geben den Duft, und an unsrer Tür sind lauter edle Früchte, heurige und auch vorjährige: Mein Freund, für dich hab ich sie aufbewahrt.
Ein nächtliches Treffen zwischen den Liebenden. Bestimmt von der Sehnsucht. Nicht von der Begierde. Zugleich: dieses Treffen hat eine Vorgeschichte. Die Braut hat sich „aufbewahrt“. Ist das ein Signal dafür, dass sie selbst warten gelernt hat und ihn auch warten gelehrt hat? In einer Zeit, in der Erfahrungen in Sachen Sexualität nicht an den einen Partner/ die eine Partnerin gebunden sind, wirkt das fremdartig. Vielleicht sogar irritierend. Aber es könnte ja auch beispielgebend sein: Warten lernen.
8,1 O dass du mein Bruder wärest, der meiner Mutter Brüste gesogen! Fände ich dich draußen, so wollte ich dich küssen und niemand dürfte mich schelten! 2 Ich wollte dich führen und in meiner Mutter Haus bringen, in die Kammer derer, die mich gebar. Da wollte ich dich tränken mit gewürztem Wein und mit dem Most meiner Granatäpfel. 3 Seine Linke liegt unter meinem Haupt, und seine Rechte herzt mich. –
Ein wenig befremdlich dieser Wunsch: O dass du mein Bruder wärest. Es geht in ihm um unbefangene Nähe. Nicht um den heimlich-unheimlichen Wunsch nach Inzest. Vielleicht wird diese Redeweise auch von daher verständlich, dass ja sonst im Hohen Lied die Braut mehrfach als „Schwester“ bezeichnet wird. Gleich viermal taucht die Wendung auf: „meine Schwester, liebe Braut“. (4,9; 4,10; 5,1; 5,2) Und nie ist wirklich damit die leibliche Schwester gemeint.
4 Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, dass ihr die Liebe nicht aufweckt und nicht stört, bis es ihr selbst gefällt.
Das hatten wir schon einmal. Es braucht den richtigen Zeitpunkt, den Kairos, damit die Liebe zu sich selbst erwachen kann. Sie darf nicht unzeitig erweckt werden. Nicht provoziert. Nicht beschleunigt. Sie folgt ihrem eigenen Zeitplan.
Vielleicht ist das eine der größten Herausforderungen für unsere Zeit, in der die Sexualität allgegenwärtig ist und scheinbar alle – in Abwandlung des alten Pfadfinder-Mottos – „allezeit bereit“ zu sein haben. Dabei spielt eine verhängnisvolle Verwechselung eine entscheidende Rolle. Sexualität ausleben ist nicht gleich Liebe. Und selbst „Liebe machen“ geht nicht allezeit. Hier ist – so hart sage ich das – unsere Zeit weit hinter dem weisen Wissen des Hohen Liedes um das Wesen der Liebe zurück.
5 Wer ist sie, die heraufsteigt von der Wüste und lehnt sich auf ihren Freund? Unter dem Apfelbaum weckte ich dich, wo deine Mutter mit dir in Wehen kam, wo in Wehen kam, die dich gebar.
Es ist wahr. Die Liebe fragt immer wieder erstaunt: Was ist das für ein Mensch, mit dem ich da zusammen bin? Was ist das für ein Mensch, dem ich mich anvertrauen darf? Es geht in der Liebe von einer Entdeckung zur anderen. Wer nichts mehr zu entdecken weiß, zu bestaunen findet, der hat die Liebe verloren. „Stärker als der Tod“ weiterlesen