- Mose 25, 35 – 43
35 Wenn dein Bruder neben dir verarmt und sich nicht mehr halten kann, so sollst du dich seiner annehmen wie eines Fremdlings oder Beisassen, dass er neben dir leben könne;
Manchmal sind biblische Texte unerfreulich konkret. So auch hier: Niemand wegstoßen als Fremden, der Hilfe braucht. Sich nicht verstecken hinter: Dafür gibt es Ämter. Andere sind zuständig. Oder der liebe Gott im Himmel. Nein: Du sollst dich seiner annehmen. Du bist gefragt. Es ist die Verantwortung füreinander, die die billige Ausflucht des Kain zurückweist: „Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?“(1. Mose 4,9) Es ist das Du, das die Gemeinschaft der Israeliten anredet, nicht nur die Einzelnen mit einem weichen Herzen. Aber die Gemeinschaft besteht eben aus Einzelnen, die sich auch nicht verstecken dürfen: das muss der Staat regeln.
Dein Bruder – das ist hier nicht im engen Familiensinn zu verstehen. „Der Bruder ist auch hier wieder der Mit-Israelit.“(G. Maier, Das Dritte Buch Mose, Wuppertaler Studienbibel AT, AT2; Wuppertal 1994, S,438) Gemeint ist also die Solidarität innerhalb des Volkes Israel. Sie soll ihr Maß finden, sonderbar genug, in der Solidarität gegenüber dem Fremdling oder Beisassen. „Beisasse – im Unterschied zu den Vollbürgern , den Fremdlngen, den Sklaven ein Schutzbürger, der – meist nur vorübergehend – an einem Ort ansässig ist, ohne das Bürgerrecht zu erlangen.“(Luther 2017, Sacherklärungen, S. 323)“
Damit wird aber die Solidarität nicht nach unten hin verschoben, auf das niedrigste Maß gesetzt, sondern im Gegenteil: sie darf nicht geringen eingeschätzt werden. Wir erinnern uns: Für die Fremden ist das Beste gerade gut genug. „Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.“ (19,34) Den Volksgenossen gilt die gleiche Fürsorge. Die gleiche Liebe. Es ist, in der nüchternen Sprache des Wissenschaftlers „ein generelles Gebot der Solidarhaftung nicht nur der Sippe, sondern der israelitischen Glaubensgemeinschaft insgesamt.“ (E.S. Gerstenberger, Das 3. Buch Mose Leviticus, ATD 6, Göttingen 1993, S. 353)
Es kann auffallen, lässt sich aber leicht überlesen: Es gibt keine Suche nach Gründen dafür, dass einer verarmt oder sich nicht mehr halten kann. Die Frage, wer daran Schuld trägt, ob es gar selbstverschuldet ist oder doch schicksalhaft, ob einer das Opfer ungerechter Verhältnisse geworden ist – das alles spielt keine Rolle. Was allein zählt, ist der Tatbestand. Da ist einer arm. Da schafft einer nicht mehr, das eigene Auskommen zu sichern.
Hinter diese Worten zeigt sich: es besteht Regelungsbedarf. Es braucht klare, eindeutige Schutzbestimmungen, weil die Dinge sich nicht von selbst und erst recht nicht zugunsten der Armen regeln. Es ist eine nüchterne Feststellung: „Nicht einmal die Theokratie ( = direkte Unterstellung eines Staatswesen unter Gott) bringt es auf dieser Welt fertig, Armut als soziologische Tatsache zu beseitigen.“ (G. Maier, Das Dritte Buch Mose, Wuppertaler Studienbibel AT, AT2; Wuppertal 1994, S,442) Jesus wird viel später sagen: „Ihr habt allezeit Arme um euch.“(Markus 14,7)
Es ist geboten von weltlicher und geistlicher Nüchternheit: Eine Gesellschaft, gar eine Weltgemeinschaft, in der alle reich sind oder doch wenigstens „genug“ haben, Leben in Fülle, sprengt die Grenzen der Zeit. Es ist das Versprechen der Neuen Welt Gottes: „Und er zeigte mir einen Strom lebendigen Wassers, klar wie Kristall, der ausgeht von dem Thron Gottes und des Lammes, mitten auf ihrer Straße und auf beiden Seiten des Stromes Bäume des Lebens, die tragen zwölfmal Früchte, jeden Monat bringen sie ihre Frucht, und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker.“( Offenbarung 22, 1 – 2) Bis dahin aber markieren die Worte hier eine Aufgabe: beizutragen dazu, dass die Armen und die es nicht schaffen, sich nicht mehr halten können, nicht abgehängt werde. „Füreinander verantwortlich“ weiterlesen