Galater 3, 19 – 29
19 Warum gibt es dann das Gesetz? Es wurde erlassen, damit deutlich wird: Wir leben gegen Gottes Willen.
Es ist die Frage, die sich aufdrängt: Wenn das Gesetz so „nebensächlich“ ist, zweitrangig, warum dann überhaupt? Die erste Antwort: Es hat eine aufdeckende Wirkung. Es macht sichtbar: Wir leben gegen Gottes Willen. Wir sind nicht die, die in allem dem Willen Gottes entsprechen. Im Gegenteil: Wir leben von Grund auf im Widerspruch gegen Gott.
Das Gesetz gilt so lange, bis der Nachkomme Abrahams da ist, auf den sich das Versprechen Gottes bezieht. Im Übrigen wurde es durch Engel angeordnet und von einem Mittelsmann überbracht. 20 Ein Einzelner braucht keinen Mittelsmann. Und Gott ist doch nur Einer.
Die zweite Antwort: das Gesetz ist nur eine Zwischenlösung. Es hat seine Zeit, die endet, wenn der Nachkomme Abrahams da ist. Mit ihm ist die Zeit des Gesetzes abgelaufen. Dieser Gedanke der neuen Zeit, die mit Christus da ist, steht auch hinter dem Bild, das verschiedentlich von den Evangelisten verwandt wird: Wenn der Bräutigam da ist, ist die Zeit der Hochzeit da – hohe Zeit, erfüllte Zeit. So denken Lukas und Matthäus, Markus und auch Johannes.
Es wirkt für heute Lesende wie ein Nebengedanke: Es sind Engel, die das Gesetz angeordnet haben und es wurde von Mose als Mittelsmann überbracht. Der Hinweis auf den Mittler Mose lässt sich nachvollziehen: „Ich stand zu derselben Zeit zwischen dem HERRN und euch, um euch des HERRN Wort zu verkündigen; denn ihr fürchtetet euch vor dem Feuer und gingt nicht auf den Berg.“ (5. Mose 5,5) Für die Ableitung des Gesetzes von Engeln gibt es jüdische Traditionen. Beispielsweise: „Unsere wichtigsten Satzungen und den heiligsten Teil unsere Gesetze haben wir durch Engel erhalten, die von Gott gesandt waren.“(Josephus, Jüdische Altertümer, XV, 5.3 Wiesbaden, o. J. S. 313f.) Josephus ist ein jüngerer Zeitgenosse des Paulus, von daher liegt es nahe – hier gibt es gemeinsame Traditionsstränge. Dann ist Paulus also einer, der mit seinem Reden nicht einfach Brücken einreißt und Forderungen stellt – er sucht zugleich auch eine Verständigungsebene. Woran Paulus mit einer Argumentation liegt: Das Gesetz kommt nicht unmittelbar von Gott und es schafft folgerichtig auch keine Unmittelbarkeit zu Gott.
21 Steht dann das Gesetz im Widerspruch zum Versprechen Gottes? Auf keinen Fall! Das wäre anders, wenn ein Gesetz erlassen worden wäre, das Leben schenken kann. Dann könnte die Befolgung des Gesetzes dazu führen, von Gott als gerecht anerkannt zu werden. 22 Nun sagt aber die Heilige Schrift, dass die ganze Welt der Sünde unterworfen ist. Umso mehr gilt das Versprechen, das die Glaubenden erhalten haben: Es genügt der Glaube an Jesus Christus!
Daran liegt Paulus: Gott hat keine konkurrierenden Heilswege geschaffen. Gott hat gewusst, dass das Gesetz nicht in der Lage ist, das Leben zu schenken. Es ist nicht das Instrument, mit dem irgendjemand seine Anerkennung vor Gott als gerecht erreichen könnte. Die Wirkung des Gesetzes ist in der Sicht das Paulus vielmehr, zu zeigen und zu verdeutlichen, was die Heilige Schrift sagt, dass die ganze Welt der Sünde unterworfen ist.
23 Bevor die Zeit des Glaubens kam, waren wir der Aufsicht des Gesetzes unterstellt. Wir sollten in Gewahrsam bleiben bis zur Offenbarung des Glaubens an Christus. 24 Das Gesetz war also unser Aufseher bis Christus kam. Denn aufgrund des Glaubens sollten wir vor Gott als gerecht gelten.
Das ist die Beschreibung der Funktion des Gesetzes: Es ist eine Art „Aufsicht“. Eine „Verwahranstalt“, damit es nicht zum Chaos im miteinander kommt und zur offenen Rebellion gegen Gott. Das Gesetz unterbindet das völlige Entgleisen in Gewalt. Darin aber ist es nur eine Zwischenlösung – bis Christus kam.
Ältere Übersetzungen haben an dieser Stelle einen harschen Klang. Das Gesetz ist „unser Zuchtmeister“ (so auch noch Luther 2017). Die Basisbibel sagt: unser Aufseher. Im Griechischen klingt es doch ein wenig behutsamer: παιδαγωγὸς (paidagogos)- unser Pädagoge, unser Erzieher. Mir scheint, dass diese Übersetzungen in die Falle laufen, die sich durch eine negatives Verständnis des Gesetzes öffnen. Paulus hat so ein negatives Verständnis nicht! Er relativiert nur da Gesetz als Weg zum Heil, zur Anerkennung vor Gott, nicht als Ordnungsfaktor im Zusammenleben.
25 Aber seit die Zeit des Glaubens gekommen ist, sind wir nicht mehr dem Aufseher unterstellt. 26 Ihr seid alle Kinder Gottes, weil ihr durch den Glauben mit Christus Jesus verbunden seid. 27 Denn ihr habt in der Taufe Christus angezogen. Und durch sie gehört ihr nun zu ihm.
Mit Christus ist eine Zeitenwende gegeben. Davon reden auch die Evangelien immer wieder. Mit ihm fängt das Reich Gottes mitten unter den Bedingungen der Zeit schon an. Dadurch, dass die Glaubenden Kinder Gottes sind. Söhne und Töchter, weil sie durch den Glauben mit Christus Jesus verbunden sind. Was ich sachlich formuliere, ist in den Worten des Paulus Zusage: Ihr seid! Darum schreibt er ja diesen Brief, nicht um ein Lehrstück christlichen Glaubens zu entfalten, sondern um verunsicherte Leute in ihrem Glauben zu vergewissern. Ihnen aus ihrer Verunsicherung zu helfen. Es ist Brief-Seelsorge, die Paulus hier betreibt, auch in der Gestalt der Diskussion von Glaubensinhalten.
28 Es spielt keine Rolle mehr, ob ihr Juden seid oder Griechen, Sklaven oder freie Menschen, Männer oder Frauen. Denn durch eure Verbindung mit Christus Jesus seid ihr alle wie ein Mensch geworden. 29 Wenn ihr aber zu Christus gehört, dann seid ihr Abrahams Nachkommen. Damit bekommt ihr auch das Erbe, das Gott ihm versprochen hat.
Es folgt der Spitzensatz, der bis auf dem Tag heute größte Herausforderung an die Wirklichkeit aller christlichen Kirchen und Gemeinden ist. Er ist das Schlüsselwort für das Gemeindeverständnis des Paulus. In der Gemeinde sind alle sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Merkmale, wie sie sonst in der Welt gelten, zweitrangig geworden. Sie sind nicht weg, aber sie sind kein Ordnungsfaktor mehr.
Ob jemand Bischof oder Straßenfeger, Dr. oder Hilfsschüler, ob einer klug und gebildet oder unbeholfen und stoffelisch ist, charmant oder grobschlächtig, Mann oder Frau, hochgestellt oder auf Unterstützung angewiesen – das spielt alles keine Rolle mehr. Darin zeigt sich der neue Mehrwert der Gemeinde. Alle sind einer und gleich – in Christus.
Vielleicht muss in Umkehrung gesagt werden: wenn die Gemeinde das nicht lebt, dann vergeht sie sich an ihrer Würde als Nachkommenschaft Abrahams. Dann verspielt sie die Freiheit, zu der sie befreit ist.
Zum Weiterdenken
Es gibt Sätze, die lesen sich wunderbar. Es gibt Sätze, die eignen sich für Leitbilder auf Hochglanz-Papier. Die Frage ist allerdings: Werden sie auch gelebt? Die Gleichheit aller im Leib Christi, wie sie Paulus als Gegenwart beschreibt und damit als Norm für alle Zeiten in der Christenheit einfordert, ist so ein Satz. In der Wirklichkeit dagegen gibt es die geistlichen Würdenträger, die Laien mit Doktortitel und Professorenadittüde, die einflussreichen Leute aus der Wirtschaft – und sie alle werden anders hofiert als der Obdachlose und die Arbeitslose, als die Sozialhilfeempfängerin und die alleinstehende Mutter mit mehreren Kindern. In meiner Zeit als Synodaler meiner Kirche gab es nicht einen Sozialhilfeempfänger unter den Synodalen männlichen und weiblichen Geschlechts. Und das Gewicht einer Wortmeldung eines Chefs von Böhringer, Merck, Fresenius in der Presse, der Synodalversammlung oder beim Landeskirchenamt ist allemal höher als wenn Lieschen Müller sich zu Wort meldet.
Du heiliger Gott willst Dich uns schenken und in Deiner Gnade uns frei machen von allen Versuchen, uns selbst vor dir ins rechte Licht zu rücken. Du willst unser Vertrauen, dass Du uns in Jesus den Weg zu Dir geöffnet hast, und dass wir Dir mit leeren Händen und verzagten Herzen willkommen sind. Du wartest nicht darauf, dass wir Dir unsere Leistungsbilanz präsentieren. Du wartest auf unser Vertrauen. Das will uns Dein Evangelium lehren. Dazu will uns Dein Geist leiten. Gib, dass wir uns Dein Leiten gefallen lassen. Amen