Johannes 11, 32 – 45
32 Als nun Maria dahin kam, wo Jesus war, und sah ihn, fiel sie ihm zu Füßen und sprach zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.
Maria wiederholt, so nahe sind sich die Schwestern in ihrem Denken und vagen Hoffen, die Worte ihrer Schwester Martha. Kein Vorwurf. Nur: Schade, dass Du nicht da warst. Jetzt ist alles vorbei. Wenn der Tod da ist, seine Herrschaft angetreten hat, ist kein Raum mehr für Wunder. Auch nicht für Jesus. Weil es so in Maria aussieht, gilt: Jesus wird auch mit ihr Schritt für Schritt über diese Hoffnungslosigkeit hinausgehen müssen. Maria wird nicht einfach die Erfahrung ihrer Schwester „erben“, übernehmen können.
33 Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, ergrimmte er im Geist und wurde sehr betrübt 34 und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie antworteten ihm: Herr, komm und sieh es! 35 Und Jesus gingen die Augen über. 36 Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er ihn lieb gehabt! 37 Einige aber unter ihnen sprachen: Er hat dem Blinden die Augen aufgetan; konnte er nicht auch machen, dass dieser nicht sterben musste?
„Immer ist die Bibel äußerst sparsam in der Darstellung von „Gefühlen“. Von dem inneren Empfinden Jesu erfahren wir nur selten etwas.“ (W. de Boor, Das Evangelium des Johannes, 2. Teil, Wuppertaler Studienbibel. Wuppertal 1976, S. 32) Aber jetzt hier: Tränen. Nicht nur bei Maria. Auch bei den Juden. Und dann auch bei Jesus. Aber es sind jedes Mal andere Tränen – die des Leides bei Maria, des Mitleides bei den Juden und des Grimms bei Jesus. Es ehrt Johannes, der manches harsche Urteil über die Juden kennt, dass er hier ihre menschliche Nähe zeichnet. Und sie sehen auch und respektieren, dass es Tränen der Liebe sind, die Jesus weint.
Der weinende Christus ist in meinen Augen eine Befreiung aus einem engen Korsett. Männer weinen nicht, allenfalls heimlich (H. Grönemeyer). Und Erlöser sollten doch wohl erst recht nicht weinen. Ist Weinen doch allzu häufig ein Zeichen von Schwäche und Ohnmacht, von Hilflosigkeit und Ergebung. Wenn aber der Christus weint, dann dürfen es doch auch die Christen. Dann müssen wir den Schmerz der Trauer nicht in Siegesfeiern umsprechen. Dann muss die Botschaft von der Auferstehung nicht regelrecht gewalttätig verbieten, dass einer am Grab weint. „Komm heraus!“ weiterlesen