Lukas 11, 37 – 54
37 Als er noch redete, bat ihn ein Pharisäer, mit ihm zu essen. Und er ging hinein und setzte sich zu Tisch. 38 Als das der Pharisäer sah, wunderte er sich, dass er sich nicht vor dem Essen gewaschen hatte.
In diesen Sätzen ist noch nichts zu spüren von der folgenden Eskalation der Ereignisse. Da bittet ein Pharisäer Jesus freundlich zu sich nach Hause, an den Tisch, zum Tischgespräch. Er sucht das Gespräch mit dem „prominenten“ Gast. Die Worte, die Lukas gebraucht, signalisieren: er freut sich darauf. Die Auseinandersetzungen der vorigen Abschnitte scheinen vergessen – es könnte schön werden. Nur eine kleine Irritation verzeichnet Lukas bei dem Pharisäer, weil Jesus seine Reinlichkeitsgewohnheiten schlicht ignoriert.
39 Der Herr aber sprach zu ihm: Ihr Pharisäer, ihr haltet die Becher und Schüsseln außen rein; aber euer Inneres ist voll Raubgier und Bosheit.40 Ihr Narren, hat nicht der, der das Äußere geschaffen hat, auch das Innere geschaffen? 41 Gebt doch, was drinnen ist, als Almosen, siehe, dann ist euch alles rein. 42 Aber weh euch Pharisäern! Denn ihr gebt den Zehnten von Minze und Raute und allerlei Gemüse, aber am Recht und an der Liebe Gottes geht ihr vorbei. Doch dies sollte man tun und jenes nicht lassen. 43 Weh euch Pharisäern! Denn ihr sitzt gern obenan in den Synagogen und wollt gegrüßt sein auf dem Markt. 44 Weh euch! Denn ihr seid wie die verdeckten Gräber, über die die Leute laufen und wissen es nicht.
Jesus kann Gedanken lesen – das hat Lukas seine Leser hinlänglich gelehrt. So auch hier: Er weiß, was sich im Kopf seines Gastgebers abspielt. Aber weit entfernt davon, damit freundlich und ein wenig ironisch umzugehen, startet Jesus einen Frontalangriff. Sein Gastgeber wird in Sippenhaftung für die ganze Bewegung der Pharisäer genommen. Ihr seid Spezialisten in Sachen Reinheit – und seid dabei doch merkwürdig blind. Ihr seid auf Äußerlichkeiten getrimmt, aber die innere Unreinheit ist euch gleichgültig. Ihr pflegt Fassaden, aber wie es dahinter aussieht, ist für euch kein Thema. Ihr seid Formalisten, und über dem Dringen auf die Einhaltung der Formalia vergesst ihr, worauf es wirklich ankommt: auf Liebe und Gerechtigkeit.
Ich stelle mir das einen Augenblick vor. Da sagt einer heute, in eine Veranstaltungen hinein, die sich um die Ordnung der Kirche müht: „Am Recht und an der Liebe Gottes geht ihr vorbei.“ Ich muss nicht Prophet sein, um mir die tumultartigen Reaktionen vorzustellen. Da werden auch besonnene Geister nicht ruhig sein können. Der Widerspruch gegen solche Worte ist vorprogrammiert. Denn sie kränken, weil sie das eigene Bemühen um Gott schlicht für verfehlt erklären. Was ihr tut, entspricht nicht dem, was Gott will. Wer Menschen gegen sich aufbringen will, der muss sie so angreifen.
45 Da antwortete einer von den Schriftgelehrten und sprach zu ihm: Meister, mit diesen Worten schmähst du uns auch. 46 Er aber sprach: Weh auch euch Schriftgelehrten! Denn ihr beladet die Menschen mit unerträglichen Lasten und ihr selbst rührt sie nicht mit einem Finger an. 47 Weh euch! Denn ihr baut den Propheten Grabmäler; eure Väter aber haben sie getötet. 48 So bezeugt ihr und billigt die Taten eurer Väter; denn sie haben sie getötet, und ihr baut ihnen Grabmäler!
Jesus ist nicht der einzige Gast und das Befremden auch der anderen Gäste über ihn ist offenkundig. Darum interveniert jetzt ein Schriftgelehrter – ehrfurchtsvoll aber doch deutlich: Meister, mit diesen Worten schmähst du uns auch. Er nennt Jesus Meister, erkennt ihn also an als einen, der weiß, was er sagt, der ein Lehrer in Israel ist. Aber er signalisiert auch persönliche Betroffenheit. Es geht um mehr als um eine Debatte. Was Jesus sagt, schmäht Menschen, setzt sie herunter, entwertet die Frömmigkeit einer ganzen Gruppe. Und man möchte ihm zurufen: So redet man nicht über das, was anderen wichtig ist! „Eskalation“ weiterlesen